Bevor ich anfange, will ich Ihnen gerne die Chance geben, vom Lesen dieses Beitrags Abstand zu nehmen: Ich bin Mathematiker. Mit diesem Satz habe ich schon so manches aufkeimende Gespräch zu einem abrupten Ende gebracht, warum also nicht das Lesen eines Blogbeitrags? Tatsache ist, dass meine Wissenschaft in vielen Menschen eine Reaktion auslöst, die bei vielen wohl mit der erzwungenen Berührung mit einem Schulfach des gleichen Namens zu tun hat. Also wenn Sie lieber das Weite suchen, ich halte Sie sicher nicht auf – aber ich möchte doch gleich darauf hinweisen, dass die Geschichte, die ich Ihnen hier erzählen will, von etwas ganz anderem handeln wird als von der Art Mathematik, die Sie in der Schule kennenlernen mussten.

Trotzdem noch ein weiteres kurzes Wort der Warnung: Ich bin tatsächlich durch und durch Mathematiker. Es fällt mir immer sehr schwer zu erklären, woraus meine wissenschaftliche Arbeit eigentlich besteht. Tatsächlich führt ein Gespräch wie oben, bei dem mein Gegenüber nicht die Flucht angetreten hat, oft zu der Frage, was denn nun ein Mathematiker eigentlich den ganzen Tag über macht (in unserem Fall, wenn er gerade keinen Blogbeitrag schreibt). Wenn ich auf diese Frage inhaltlich antworten will und nicht einfach nur die äußeren Anzeichen meiner Arbeit aufzähle (sitzt, denkt, schreibt, redet über Mathematik), so ist das für mich einfach schwierig.

Die Sprache der Mathematik

Um den wichtigsten Grund dieser Schwierigkeit zu erklären, muss ich ein wenig ausholen. Objekte mathematischer Forschung können, je nach philosophischer Überzeugung des Betrachters, ganz verschiedene Gestalten haben. Die Ansichten darüber, wie diese Gestalt eigentlich aussieht, haben eine erstaunliche Bandbreite: Von geisterhaften Erscheinungen, die keine echte (stoffliche) Realität besitzen, bis zu den einzigen Objekten, denen echte Realität innewohnt, man kann für jeden Geschmack etwas finden. Das hat auch damit zu tun, dass Mathematik für die einen eine Sprache ist, mit der wir natürliche Phänomene verstehen wollen, während sie für die anderen eine eigene Realität besitzt.

Gemeinsam ist allen diesen Zugängen (fast) immer die Tatsache, dass Mathematik keine experimentelle Wissenschaft ist: Wir formulieren keine Theorien, die man mithilfe von Experimenten testen (also falsifizieren) kann. Wir formulieren Theoreme (Sätze), welche allgemeingültige Aussagen über (mathematische) Objekte treffen. Dabei ist Genauigkeit entscheidend: Ein Satz erhält seine Gültigkeit durch die fehlerlose logische Schlusskette seines Beweises.

Das bedingt, dass die mathematische Sprache eine wirklich feine Klinge ist: Die Kraft der Mathematik beruht auf der Klarheit, in der sie ausgedrückt wird, und dies bedingt, dass sich ihre Sprache sehr weit von der üblichen Anschauung entfernt hat. Wenn ich versuche, in der Alltagssprache mathematische Probleme zu erklären, dann ist es fast unmöglich, dies inhaltlich korrekt zu tun, und ich muss die gewohnte Schärfe aufgeben. Dieser Schritt ist sehr schwierig (für mich). Ich versuche es aber trotzdem; und ich will versuchen, ein wenig von dem größeren Bild zu zeigen und vielleicht meine (nach wie vor große) Begeisterung für die Mathematik ein wenig verständlich zu machen.

Forschungsgebiet im Grenzbereich

Mein eigenes Forschungsgebiet ist im Grenzbereich zwischen der Geometrie und der Analysis angesiedelt. Geometrie ist dabei lange nicht mehr das, was Sie in der Schule vielleicht kennengelernt haben – in der modernen Mathematik und in weiten Bereichen der Naturwissenschaften ist die Geometrie heute fast eine universelle Zugangsweise, die es uns erlaubt, über viele verschiedene Phänomene in einer relativ einheitlichen Art und Weise nachzudenken. Geometrie hilft in der Mathematik nicht nur dabei, über algebraische Gleichungssysteme nachzudenken, sondern auch dabei, wichtige Ungleichungen zu verstehen. Geometrie ist auch unabdingbar, um das Verhalten von Lösungen partieller Differentialgleichungen zu beschreiben, mit denen wir Naturphänomene mithilfe moderner Physik verstehen.

Die Analysis auf der anderen Seite ist eines der mächtigsten Werkzeuge, die die Mathematik über die Jahrhunderte entwickelt hat. Sie stellt Verbindungen zwischen dem Verhalten von Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Größen her: vom Verhalten im Kleinen zum Verhalten im Großen, von kurzer Zeit zu langer Zeit, über strukturelle Probleme (Singularitäten) hinweg schafft die Analysis einen Bogen, der viele Phänomene nicht nur der Mathematik, sondern auch der Natur erst verständlich oder eben analysierbar macht.

Differentialgleichungen und natürliche Phänomene

Eine der wichtigsten Methoden, die uns die Natur mithilfe der Analysis zugänglich macht, ist die Beschreibung von natürlichen Phänomenen durch (partielle) Differentialgleichungen: Mit ihnen werden die Abhängigkeiten der Änderung von (beobachtbaren) Größen in Verbindung zueinander gesetzt. Die ersten Beispiele, von denen man dabei üblicherweise hört, sind die Wärmeleitungsgleichung und die Wellengleichung. In diesen Gleichungen wird die Entwicklung einer Größe mit voranschreitender Zeit beschrieben. Die Temperaturverteilung in einem Objekt verändert sich mit der Zeit, und zwar je rascher, je größer die Veränderung der Temperatur im Raum zu dem Zeitpunkt ist (fragen Sie nur Ihren Kühlschrank danach). Die Wärmeleitungsgleichung beschreibt diesen Vorgang. Die Wellengleichung dient zum Beispiel dazu, zu beschreiben, wie eine Klaviersaite schwingt, nachdem sie angeschlagen worden ist.

Die Wärmeleitungsgleichung modelliert die Veränderung der Temperaturverteilung zum Beispiel in einem Kühlschrank.
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Andere partielle Differentialgleichungen beschreiben als ihre Lösungen Größen, die sich in einem speziell ausgeglichenen Zustand befinden: Wenn Sie eine Seifenblase auf einem Drahtring erzeugen, versucht der Seifenfilm seine Oberflächenspannung zu minimieren und erzeugt so eine Fläche minimaler Größe; diese Eigenart des Seifenfilms wird von der Laplace-Gleichung beschrieben.

Die Laplace-Gleichung beschreibt eine Eigenart des Seifenfilms.
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Die partiellen Differentialgleichungen, mit denen ich mich in meiner Arbeit auseinandersetze, sind die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen. Nicht nur tragen sie den Namen zweier berühmter Mathematiker (Augustin-Louis Cauchy, 1789–1857; Bernhard Riemann, 1826–1866), sondern zugleich zweier berühmter Mathematiker damals konkurrierender Nationen (Frankreich und Deutschland). Wir nennen die Lösungen dieser Differentialgleichungen holomorphe Funktionen, und der Zweig der Mathematik, der sich mit ihnen beschäftigt, heißt komplexe Analysis. Dies hat damit zu tun, dass man diese Arten von Funktionen am besten im Zusammenhang mit komplexen Zahlen verstehen kann.

Das "Kopfgeld" der Clay-Foundation

Holomorphe Funktionen sind relativ speziell und Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen vom zweiten vorher besprochenen Typus (keine Zeitentwicklung, sondern eher ein ausgeglichener Zustand; holomorphe Funktionen sind eng verwandt mit Lösungen der Laplace-Gleichung). Trotzdem tauchen sie nicht nur über die ganze Mathematik hinweg auf, sondern auch in vielen wichtigen Anwendungsgebieten. Sämtliche "elementaren" Funktionen sind holomorph: Exponentialfunktionen, Winkelfunktionen, Potenzfunktionen, Logarithmen und viele andere mehr; die komplexe Analysis erlaubt uns unter anderem die effektive Berechnung dieser wichtigen Größen.

Ein anderes Beispiel einer holomorphen Funktion, die eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, ist die Riemann'sche Zeta-Funktion: Die Lage ihrer Nullstellen ist Inhalt der seit mehr als 150 Jahren ungelösten Riemann'schen Vermutung, auf deren Lösung ein "Kopfgeld" der Clay-Foundation von einer Million US-Dollar ausgesetzt ist. Obwohl diese Frage nun sehr theoretisch klingen mag, würde eine Lösung auch direkte Auswirkungen auf die gängigen Verschlüsselungstechniken im Internet haben, wie sie jeden Tag im Geschäftsverkehr zum Einsatz kommen.

Kein Mangel an offenen Fragen

Aber wir beschäftigen uns nicht nur mit jahrhundertealten Problemen. Eine der Fragen, mit denen wir oft konfrontiert werden, ist, ob es in der Mathematik (es ist ja doch schon eine relativ alte Wissenschaft) überhaupt noch etwas zu erforschen gibt. Die Antwort darauf ist aus meiner Sicht ein klares Ja: Je länger ich in der Mathematik arbeite, desto mehr verstehe ich, wie wenig wir tatsächlich wissen. Es gibt keinen Mangel an offenen, ungelösten Fragen. Wie schon gesagt, die Mathematik unterscheidet sich hier von anderen Wissenschaften – die Sätze von Euklid haben heute genauso Gültigkeit wie vor 2.000 Jahren. Aber das heißt nicht, dass man sich erwarten soll, dass die gesamte Mathematik jemals vollständig beschrieben werden kann; eines der Resultate von Kurt Gödel kann so interpretiert werden, dass das prinzipiell unmöglich ist.

Wie finden wir eigentlich die Probleme, an denen wir arbeiten? Oft ergeben sich die Fragen, an denen man weiterarbeiten muss, natürlich aus der vorangegangenen Arbeit. Manchmal geht es dabei, die Gültigkeit bekannter Ergebnisse auf allgemeinere Situationen zu erweitern, manchmal darum, nachzuschärfen. Auf der anderen Seite (und das ist oft interessanter) stößt man auch immer wieder auf Fragen, die mithilfe der vorhandenen Methoden nicht mehr zu beantworten sind. Einer meiner Kollegen vergleicht die Arbeit eines Mathematikers gerne damit, für viele verschiedene Aufgaben immer ein passendes Werkzeug dabeizuhaben. In dem Fall, wo unsere Methoden an ihre Grenzen stoßen, muss man in diesem Vergleich dann einfach ein passendes Werkzeug basteln; das ist einer der forderndsten Teile unserer Arbeit, aber nicht unbedingt der angenehmste.

Vorausdenken – wie beim Schachspiel

Es gibt noch viel schönere Möglichkeiten, den Inhalt mathematischer Arbeit zu beschreiben, als die oben erwähnte Werkzeugkiste. Den Vergleich zu einem Schachspiel zum Beispiel: Wie man beim Schachspielen mehrere Züge vorausdenken muss, muss man auch bei einer Argumentationskette einige Schritte vorausdenken. Und während es viel Freude machen kann, eine gute Partie Schach zu spielen, ist es oft auch notwendig, neue Varianten auszuarbeiten oder sich Antworten auf neue Spielvarianten zurechtzulegen. Und hoffentlich kann man dann schlussendlich diese neuen Dinge in einer Partie tatsächlich erfolgreich anwenden.

Die Freude an der Mathematik

Eine ähnlich schöne Analogie, die meinem Verständnis von und meiner Erfahrung mit Mathematik wohl am nächsten kommt, ist die der Musik, was oft in J. J. Sylvesters Zitat "mathematics is the music of reason" zusammengefasst wird. Der Vergleich mit der Musik schafft es, einen Aspekt der mathematischen Arbeit gut zu veranschaulichen, der bis jetzt noch keine Erwähnung gefunden hat – und doch einer der wichtigsten ist: der unglaublich spannende kreative Prozess, der mathematischer Arbeit innewohnt. Ähnlich wie in einem guten Musikstück gibt es Mathematik, die sich von selbst entwickelt; bei der man zunächst das Gefühl hat, sie kaum (be-)greifen zu können, und während das Stück voranschreitet, entwickelt sie sich von einer flüchtigen Idee in eine eigene Melodie, erhält Leben und findet, gelöst von allen Zwängen, neue Ausdrücke in immer neuer Form.

Mathematik zeichnet sich für mich vor allem durch die kreativen Herausforderungen aus, wo man zunächst unklare Erscheinungen antrifft, versucht, diese in eine fassbare Form zu bringen, und ihnen dann zu einem Ausdruck verhilft. Das macht für mich die Freude an der Mathematik aus: dass ich oft nicht weiß, wohin sie mich führen wird; dass ich oft von ihr überrascht werde; dass mir bei meiner Arbeit fast nie langweilig wird. (Bernhard Lamel, 25.4.2018)