Bei einer Zugfahrt mit der ÖBB wurde ich vor ein paar Tagen auf einen interessanten jungen Mann aufmerksam. Das Markanteste an ihm waren zwei handtellergroße schwarze Plastikräder, die er in den Ohrläppchen trug (und wenn ich "handtellergroß" sage, nehme ich an meinen, wahrlich nicht kleinen Pratzen Maß).

Der Jüngling lieferte so ein anschauliches Sinnbild für die erstaunliche Ohrläppchendehnungsfähigkeit des Menschen. Ich nehme an, dass ihm die Läppchen, nach Entfernung der Räder, locker bis zu den Brustwarzen herunterhängen, schließe aber auch nicht aus, dass er gelegentlich mit ihnen seilspringt. Eine feine Sache, wenn einem die Zeit fehlt, ins Fitnesscenter zu gehen!

Diese Kunst der Materialdehnung am lebenden Subjekt nennt sich "Tunneling". Ich befürworte das Tunneling sehr, finde es aber bedauerlich, dass in der Regel offenbar nur das Außen-ohr getunnelt wird, während dem Innenohr jeder schmückende Eingriff vorenthalten bleibt. Dabei ließe sich mit der Einführung eines Rädchens in den Gehörgang das Trommelfell problemlos tunneln, was nicht nur das Hörvermögen verbessern würde, sondern, wenn lange Trommelfellfädchen aus den Ohren hingen, auch zierlich aussähe.

Leider hat sich das bei diversen Naturvölkern (ich hoffe, der Ausdruck ist politisch korrekt) übliche Aufdehnen der Unterlippe mittels einer tablettartigen großen Scheibe bei uns nie richtig durchgesetzt. Dabei besticht die Scheibenlippe nicht nur durch ihre formschöne Eleganz, sie ist auch funktional, weil sich auf ihr mühelos kleine Buffets anrichten lassen (Käsehäppchen, Hartwurstscheiben, belegte Brötchen, Gemüsespieße usf.). Ob der Scheibenlippenbesitzer nur selbst zugreift oder diese Köstlichkeiten auch Gästen serviert, tut dabei wenig zur Sache.

Ein lange ersehnter Durchbruch in der Dehnungskunst wäre geschafft, wenn man demnächst auch die Körpermitte ordentlich tunneln könnte. Es kann doch keine Kunst sein, Bauchfleisch und Eingeweide durch das Einführen sukzessiv größerer Räder so auseinanderzuspreizen, dass sich letztlich ein schönes kreisförmiges Loch im Körper auftut. Die Vorteile: Das Loch sorgt für ein transparentes Gegenüber und lässt sich als Durchreiche verwenden, sodass man nicht ständig um andere Leute herumgreifen muss. Sehr, sehr praktisch wäre das. (Christoph Winder, Album, 20.4.2018)