Eine Kindesabnahme ist das drastischste Mittel, das dem Jugendamt zur Verfügung steht. Das oberste Ziel ist, dass Kinder in den Familien bleiben können.

Foto: Heribert Corn

Gerät ein Kind in der eigenen Familie in Gefahr, ist die Kinder- und Jugendhilfe da, um es zu schützen. Diese Aufgabe nehme das Amt in Wien ungenügend wahr, sagen Kritiker und Betroffene. Der STANDARD hat mit Experten über Baustellen des Jugendamtes gesprochen.

  • Ressourcen

350 Sozialarbeiter schauen im Auftrag der Wiener Kinder- und Jugendhilfe bei Familien nach dem Rechten. Sie bieten Unterstützung an oder schreiten ein, wenn eine zu große Gefährdung vorliegt.

13.722-mal erfuhr die Behörde 2016 von einer vermuteten Gefährdung eines Kindes, in 10.649 Fällen wurde eine Abklärung durchgeführt. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. In knapp zehn Prozent der Fälle wurde ein Kind infolgedessen aus seiner Familie genommen und "fremduntergebracht". In den Jahren davor bewegte sich die Anzahl in der gleichen Größenordnung.

Die Entscheidung, ob ein Kind aus der Familie genommen wird, muss meist schnell gehen. Bei der Wiener Kinder- und Jugendhilfe gilt das Vier-Augen-Prinzip.

Auch Supervision sei in diesem Bereich enorm wichtig, meint Thomas Stompe, Universitätsprofessor und Facharzt für Psychiatrie. Diese ist laut dem Wiener Kinder- und Jugendhilfegesetz den Bediensteten zumindest anzubieten. Es sei ein System, in das man "nie genug investieren könne", sagt Stompe.

  • Abklärung

Erreicht die Kinder- und Jugendhilfe eine Gefährdungsmeldung, kommt diese zu 28 Prozent von der Polizei, zu 19 Prozent aus der Schule, zu jeweils neun Prozent von anonymen Meldern oder sie ergibt sich durch die Eigenwahrnehmung der zuständigen Magistratsabteilung. Der Rest der Meldungen verteilt sich auf Betroffene, Ärzte und andere.

Mehr als jede zweite Meldung betrifft Vernachlässigung, psychische Gewalt spielt in 30 Prozent der Fälle eine Rolle. 15 Prozent beziehen sich auf körperliche, ein Prozent auf sexuelle Gewalt.

Es ist ein heikles Terrain, auf dem sich Sozialarbeiter befinden, wenn sie beauftragt werden, die Situation einzuschätzen. Eine professionelle Einschätzung sei erst nach "länger dauernder Beobachtung möglich", sagt Experte Thomas Stompe.

Selten sprechen Kinder selbst an, wenn ein Missbrauch stattgefunden hat. "Es sind vielmehr Verhaltensänderungen, auf die man aufmerksam werden muss", erklärt Stompe. Diese kommen bei Kindern anders zum Ausdruck als bei Erwachsenen. Sie würden sich etwa in einer Spielsituation zeigen, im Zuge derer man erkennen müsse, was zur Darstellung gelange.

Es reiche nicht, nur mit den Personen im Umfeld zu sprechen. Vertrauen aufzubauen sei wichtig, um die Thematik ansprechen zu können, ohne suggestiv zu wirken: "Das ist die große Kunst."

  • Anfechtung

Sowohl die Liste Pilz als auch mit Kindesabnahmen betraute Juristen und Betroffene beschweren sich darüber, wie über Obsorgefälle entschieden wird.

Vor allem seit es die Familiengerichtshilfe gibt, habe sich sehr viel verbessert, sagt Familienrechtsanwalt Florian Kucera. Es gebe aber Luft nach oben. Kucera, aber auch andere Anwälte berichten von einer "gewissen Angst" seitens des Jugendamtes, Fehlbeurteilungen bzw. Verbesserungen in der Familie zuzugeben. Das Jugendamt bleibe stur bei seiner Meinung.

Bei den Verfahren würden sich Richter überdurchschnittlich oft der Meinung der Kinder- und Jugendhilfe anschließen. "Sie trauen sich zu wenig", fasst es Anwältin Julia Kolda zusammen.

Das sagt auch Maria Stern von der Liste Pilz. Ihr zufolge sei deswegen eine "unabhängige Ombudsstelle" notwendig, die für Qualitätssicherung zuständig ist, eine Kontrollfunktion ausübt und das Ungleichgewicht vor Gericht ausgleicht. "Richter sollen beide Seiten hören können", sagt Stern.

Was den rechtlichen Beistand betroffener Eltern angehe, gebe es Aufholbedarf, sagen auch Kucera und Kolda.

Bei der Behörde wird darauf verwiesen, dass über die einzelnen Fälle die damit beauftragten Richter urteilen würden – und Richter seien bekanntlich weisungsfrei.

  • Alternativen

Eine Kindesabnahme ist das drastischste Mittel, das dem Jugendamt zur Verfügung steht. Deswegen werde es auch nur eingesetzt, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt. Kritiker meinen, dass alternative Maßnahmen fehlen.

Tatsächlich hat die Behörde viele Möglichkeiten. Einerseits gibt es die ambulante Krisenarbeit, bei der die Kinder während der Zeit der Abklärung weiterhin zu Hause leben, sofern nicht eine akute Gefahr des Kindeswohles gegeben ist. Es werden gemeinsam Maßnahmen zur Beendigung der Gefährdung erarbeitet. Die Mobile Arbeit begleitet dann die Familie, kommt zu Besuch und bespricht die Probleme. In insgesamt neun Familienzentren können sich Eltern außerdem Rat holen.

Herta Staffa, Sprecherin des Wiener Jugendamtes, wünscht sich, dass Eltern diese Angebote noch stärker wahrnehmen und nicht warten, "bis ihre kleinen Probleme zu großen Krisen werden." Oberstes Ziel der Behörde sei es immer, dass Kinder in der Familie bleiben.

  • Kindeswohl

Betroffene – auch jene, die den STANDARD kontaktierten – kritisieren, dass das Verständnis von Kindeswohl, mit dem das Jugendamt arbeitet, willkürlich und nicht nachvollziehbar sei. Auch Maria Stern von der Liste Pilz fordert eine präzisere Definition von Begriffen wie Kindeswohl oder Verwahrlosung, auf die sich das Amt bezieht.

Zumindest offiziell gibt es jedoch eindeutige Kriterien, die das Amt bei seinen Entscheidungen heranzieht. Sie stehen auf der Grundlage der gesetzlichen Definition des Kindeswohls und beinhalten unter anderem eine "angemessene Versorgung, insbesondere mit Nahrung und Wohnraum", "Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes", "Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes durch die Eltern" sowie die "Wahrung der Interessen des Kindes".

  • Klientel

Werden Kinder Familien mit finanziellen Problemen bzw. Familien mit Migrationshintergrund eher abgenommen? Der Vorwurf erreichte die Kinder- und Jugendhilfe öfter.

Für Jugendamts-Sprecherin Herta Staffa sind die Vorwürfe "haltlos": "Wissen Sie, wie viele Kinder wir in Unterbringungen hätten, wenn wir allen mit finanziellen Problemen ihre Kinder abnehmen würden?"

Aber: Natürlich sei das ein Thema, wenn hinten und vorn das Geld fehlt und die Leute deswegen durch den Wind sind. "Armut ist ein Risikofaktor, aber nur einer von vielen."

Anwälte, die vielfach mit Kindesabnahmen zu tun hatten, bestätigen dem STANDARD, dass diese Faktoren beschleunigend wirken würden. Zahlen zu den finanziellen oder sozialen Hintergründen der Klienten gibt es aber nicht. (lhag, van, 20.4.2018)