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Die Aufgabe des Jugendamts ist denkbar schwer: Sowohl zu viel als auch zu wenig Eingriff in die Familienstrukturen kann zum Nachteil der Kinder ausgehen.
Foto: dpa/Patrick Pleul

Der Fall Patrick: Das eigene Zuhause, die Hölle

Patrick Kastner war fünf, als es anfing, bergab zu gehen. Seine Mutter konnte sich bereits kurz nach der Geburt nicht mehr um das Kind kümmern, also wuchs er bei den Großeltern auf. Noch vor Schuleintritt wurde Kastner doppelt traumatisiert.

Nach dem Tod seines Opas, seiner wichtigsten Bezugsperson, suchte er Zuflucht beim Onkel, der im selben Haushalt lebte. Der begann, ihn regelmäßig sexuell zu missbrauchen. Gleichzeitig wurde er von der Großmutter geschlagen, sagt Kastner – unter anderem mit dem Kochlöffel. Schon in der Volksschule äußerte Kastner Selbstmordgedanken, sprach immer wieder davon, aus dem Fenster zu springen, und lief mit dem Kopf fortwährend gegen die Wand. Erst mit 14 sollte er zumindest von der Plage durch seinen Onkel erlöst werden, als dieser aus dem gemeinsamen Haushalt auszog.

Alles auf Anfang mit Mitte 20

Mit 24 entschied Kastner, reinen Tisch zu machen. Er zeigte seinen Onkel wegen Missbrauchs an und führte einen Prozess. Sein Onkel wurde zu 15.000 Euro Schadenersatzahlung und Schmerzensgeld sowie zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Kastner leidet auch heute noch unter den Folgen seiner Kindheit und befindet sich in Therapie. Die Frage, warum niemand erkannte, was ihm widerfuhr, lässt ihn nicht los. Fest steht, dass es mehrere Male die Möglichkeit gegeben hätte, Kastners Martyrium zu beenden.

So ist aus der Falldokumentation des Wiener Jugendamts ersichtlich, dass die Behörde insgesamt vier Gefährdungsmeldungen nachging, die unter anderem von der Tante oder der Lehrerin ausgingen. Einmal sogar wegen sexuellen Missbrauchs.

Es war die Mutter, die gegenüber dem Amt berichtete, dass Kastner immer beim Onkel im Bett schlief, obwohl diese getrennte Zimmer hatten. Ein paar Wochen später zog sie ihre Bedenken jedoch wieder zurück. Zweimal wurde auch im Akt vermerkt, dass das Kind vom Onkel angezogen werde. Auch dass er am PC seines Onkels vermutlich Pornoseiten gesehen hat, wurde thematisiert.

An der Situation Kastners änderte sich über die Jahre hinweg jedoch wenig. Laut dem Akt wurde die Großmutter zu der Angelegenheit mit dem Onkel befragt. Sie verneinte, dass der Bub beim Onkel schlafen würde. Auch ein Telefonat mit dem Onkel ist protokolliert, der Verdacht auf sexuellen Missbrauch wurde jedoch nicht nachweislich thematisiert.

Gefahr nicht erkannt

"Wenn sich einer beschäftigt hätte, hätte man früher was machen können", sagt Kastner. Er habe als Kind nicht das Gefühl gehabt, dass das Amt auf seiner Seite stehen würde.

Man habe persönliche Gespräche mit dem Buben geführt und auch Psychologen beigezogen, sagt das Jugendamt. Es sei nie ein Therapiebedarf festgestellt worden. Auch die Mobile Arbeit mit Familien sei involviert gewesen. Das ist auch nachweisbar protokolliert. Aber niemand schien die Situation richtig einzuschätzen.

Vielleicht seien es die fehlenden Ressourcen, die es den Sozialarbeitern nicht ermöglichten, die Gefahr zu erkennen, meint Kastner heute. "Aber es kann nicht sein, dass ein Kind leidet, weil das Jugendamt keine Mitarbeiter hat."

Dass Ressourcen fehlen würden, wird von der Behörde gegenüber dem STANDARD verneint. Man bekomme die nötigen Mittel, die einen zur Durchführung des gesetzlichen Auftrages befähige. (Vanessa Gaigg, 20.4.2018)

Der Fall Emil: Acht Tage ohne mein Baby

Als Anna T. (Name geändert) nach vier Tagen Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals entlassen wird, ist sie hoffnungsvoll. Der dortige Oberarzt diagnostizierte bei ihr weder Selbst- noch Fremdgefährdung, auch Medikation sei nicht notwendig. Aufgrund einer anderen Diagnose musste sie sich einweisen lassen, ihr drei Monate altes Baby Emil wurde deswegen vom Jugendamt zu Krisenpflegeeltern gebracht.

Doch der neue Befund ändert nichts: Das Amt zieht den Antrag auf Obsorge nicht zurück. Erst nach acht Tagen kann sie Emil wieder in ihren Armen halten. Sie hat die Obsorge vor Gericht an ihre Mutter übertragen lassen.

T. ist überzeugt, dass die 2010 diagnostizierte bipolare Störung das Amt ins Spiel brachte, obwohl es keinen konkreten Anlass gegeben habe. Seit Jahren ist sie in psychiatrischer Behandlung und seit 2013 remittiert.

Besuche vom und beim Amt

Tatsächlich kommt das Jugendamt kurz nach der Geburt in die Wohnung, Grund dafür seien Aussagen im Spital gewesen, die Überforderung signalisiert hätten, ist im Antrag nachzulesen. Als T. ihn Wochen später in der Hand hält, erkennt sie sich nicht wieder. "Vieles stimmt so einfach nicht."

Der Empfehlung, regelmäßig in ein Familienzentrum des Jugendamtes zu kommen, leistete sie Folge, sie habe das Angebot sogar geschätzt und mit den Sozialarbeiterinnen immer nett geplaudert. Weil T. durch die Schwangerschaft und das spätere Stillen keine Medikamente zu sich nahm, besuchte sie regelmäßig eine Psychiaterin des Psychosozialen Dienstes (PSD).

Nach der Geburt habe sich bei den Besuchen viel um das Baby gedreht, sowohl mit der Psychiaterin als auch mit den Sozialarbeiterinnen habe T. besprochen, dass Emils Ohren eine leichte Fehlbildung hätten und dass sie wegen möglicher damit zusammenhängender Spätfolgen besorgt sei. Eine "Ohrmuscheldeformität" wurde im Spital diagnostiziert, T. besuchte mehrere Ärzte.

Streit um Gutachten

Im Antrag des Jugendamtes steht, dass sich T. "allerlei Missbildungen" einbilde. Sie habe davon gesprochen, dass sie sich davor fürchte, dass Emil nicht normal leben könne und gehänselt werde. Sie wisse nicht, wie sie damit leben könne.

T. bestreitet, das jemals so gesagt zu haben, aber beim PSD läuten die Alarmglocken. Die Aussagen werden in Richtung Suizid oder erweiterter Suizid interpretiert, das Jugendamt wird verständigt. T. wird noch am gleichen Tag zum PSD gebeten und dort über die Einweisung informiert. Alle Versuche, die Beamten noch umzustimmen, scheitern.

Die Mutter arbeitet nun daran, die Obsorge zurückzubekommen. Ein Gutachter wird den Fall bewerten und darüber urteilen. Die Situation kann T. nach wie vor nicht fassen: "Es ist doch normal, dass man sich Sorgen um das Wohl des Kindes macht."

Wieso zog das Jugendamt nach dem positiven Gutachten des Otto-Wagner-Spitals den Antrag nicht zurück? Es gebe mit einer Diagnose von 2013 und dem PSD-Befund von diesem Jahr zwei professionelle Meinungen, die Medikamente bei T. als Voraussetzung sehen. Deswegen habe man sich nicht auf das neue Gutachten gestützt, das durchaus "überraschend" ausgefallen sei. (Lara Hagen, 20.4.2018)