Sandra Bartoli, Stiftungsprofessorin an der Akademie der bildenden Künste, thematisiert mit ihren Studenten Grünräume in der Stadt.

Foto: Claudia Rohrauer, Akademie der bildenden Künste Wien

Klar umrissener Stadtteil Tiergarten in Berlin: Die Natur kehrt in die Stadt zurück, sagt Sandra Bartoli.

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Der Gegensatz von Stadt und Land wird heute mehr denn je thematisiert. Hier Mobilität, Lärm, Zivilisation, dort Ruhe, Natur, Zersiedelung. Bei Sandra Bartoli scheint es in die andere Richtung zu gehen: zu einer Aufhebung der Gegensätze. Die italienische Architektin hat eine Stiftungsprofessur an der Akademie der bildenden Künste inne, die sie unter das Motto "The City's Future Natural History" gestellt hat. Das wirft, nicht unbeabsichtigt, einige Fragen auf.

STANDARD: Sollen wir zurück zur Stadt der Selbstversorger? Oder geht es um ein romantisches Ideal der Stadtlandschaft?

Bartoli: Beides! Es geht sowohl darum, die Stadt nicht nur als Ort der Konsumption, sondern auch als Ort der Produktion von Ressourcen zu begreifen. Da ist Urban Farming auch im kleinsten Maßstab ein durchaus interessanter Ansatz. Und es geht darum, die Stadt als Lebensraum aller Spezies zu verstehen: vom Pilz bis zum Menschen. Die Artenvielfalt ist heute in der Stadt vielfach höher als auf dem Land. Das kann man romantisch finden, aber ich denke, daraus resultiert auch eine planerische Verantwortung, wie wir sie auch an der Akademie zu thematisieren versuchen.

STANDARD: Haben Sie den Prater in Ihrer Stiftungsprofessur in Wien thematisiert?

Bartoli: Das tun wir gerade. Die Studierenden sind gerade jede Woche dort, gemeinsam mit unterschiedlichen Experten. Der Prater ist ein extrem urbaner Ort, hier existieren mehrere Spezies nebeneinander, Pflanzen, Tiere, Menschen. Anders als der Berliner Tiergarten, der klar umrissen ist, hat der Prater etwas Ausuferndes, er ändert sich vom Praterstern hin zur Wildnis am anderen Ende. Sogar gesetzlich ist er sehr heterogen. Auch damit beschäftigen sich die Studierenden.

STANDARD: Was kann man aus der Analyse lernen?

Bartoli: Es ist ein Paradox: Das eigentliche Land wird immer kontrollierter und unnatürlicher, während die Natur in die Stadt zurückkehrt und komplexer und reicher wird. Das bedeutet: Wir brauchen einen anderen Blick, andere Paradigmen. Wir brauchen diese Naturreservate und können sie in der Zukunft noch radikaler, noch utopischer denken, die Stadt offener und wilder werden zu lassen. Es geht auch nicht um eine komplett freie Natur, sondern um die Überlappung von Stadt und Natur. Warum kann Autobahn nicht ein ökologischer Grünzug sein? Was, wenn wir auch andere Spezies in die Planung mit einbeziehen? Stadt und Ökologie, das ist viel mehr als Urban Gardening. Es geht darum, die Stadt so weit wie möglich als einen geschlossenen Kreislauf von Ressourcen zu denken.

STANDARD: Sie arbeiten als Architektin und Landschaftsarchitektin. Beschränkt sich die Rolle der Planer darauf, diese Stadt-Natur in Ruhe wachsen zu lassen, oder soll man sie steuern und in sie eingreifen?

Bartoli: Beides. Es geht darum, zu schauen, was es gibt, und das zu unterstützen. Dazu reichen schon minimale Eingriffe. Das tun wir auch im Prater: verstärken, polarisieren. Es geht auch darum, eine andere Stadtwahrnehmung zu schulen, eine, die weniger auf den Menschen zentriert ist. Das ist auch nichts Neues, schon viele haben sich damit beschäftigt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Bartoli: Vor allem in den 1970er-Jahren gab es einige sehr radikale Projekte, die heute fast vergessen sind. Etwa das Baumhaus, das der deutsche Architekt Ot Hoffmann 1970 in Darmstadt realisierte und das inzwischen zu einer Einheit von Architektur und Vegetation geworden ist. Aber es gibt auch strukturellere Beispiele wie die Biotopenkartierung in Berlin von 1984. Der erste Versuch einer Verwaltung, die Stadt in ihrer Gesamtheit als Biotop zu beschreiben – inklusive der dicht bebauten Areale – und mit einem Maßnahmenkatalog zu verbinden. Dieser Plan ist baurechtlich bis heute wirksam, auch wenn in den letzten beiden Jahrzehnten eine Art Backlash zu verzeichnen ist.

STANDARD: In Ihrer Arbeit ist viel von Spezies, vom Anthropozän die Rede. Gibt es ein Naheverhältnis zur Biologie?

Bartoli: Ja, und auch hier gibt es interessante Vorläufer. Die Reformbewegungen um 1900 haben schon sehr ganzheitlich biologisch gedacht, haben Kunst, Wissenschaft und Philosophie produktiv vermischt. Es gibt allerlei vergessene Traditionen, Versuche einer anderen Art der Moderne, einer, die sich nicht als Gegenpol zur Natur versteht.

STANDARD: Wie die um 1900 von Ebenezer Howard initiierte Gartenstadt-Bewegung?

Bartoli: Auch, aber das war eine ambivalente Sache, die Stadtideale der Gartenstadt-Bewegung waren sehr reguliert, sehr strikt. Die Gartenstädte, die umgesetzt wurden, haben sich ganz anders entwickelt. Diese Realität ist viel interessanter als die abstrakte Planung.

STANDARD: Sie haben sich mit Ihrem Büro für Konstruktivismus unter dem Titel "Architektur in Gebrauch" mit solchen Realitäten analytisch beschäftigt.

Bartoli: Das entstand aus unserer Neugier für Orte, an denen man Veränderungen beobachten kann. Das finden wir interessanter als Architektur, die im perfekten unberührten Moment ihrer Fertigstellung fotografiert wird. Wir haben uns beispielsweise mit der Stadtautobahn in Manchester beschäftigt, eigentlich ein brutaler ingenieurtechnischer Eingriff, aber heute ein erstaunlich lebendiger Ort, an dem sehr viel Ungeplantes passiert ist. Der Begriff des Gebrauchs ist enorm reichhaltig, er erlaubt, die Realität zu artikulieren, anders zu lesen. Das bedeutet nicht, dass gute architektonische Gestaltung nicht mehr relevant wäre, im Gegenteil. Wir haben eine große Liebe zur Form.

STANDARD: Die Stiftungsprofessur beschäftigt sich mit "visionären Formen der Stadt". Die "Vision" ist heute ein oft missbrauchter Begriff. Was verstehen Sie darunter?

Bartoli: Die Aufgabe von Architektur ist es immer, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Wir planen für das, was wir noch nicht kennen. Aber genauso wichtig ist es, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, das tun wir auch in der Forschung und Lehre, wo wir uns mit historischen Beispielen beschäftigen. Unsere Aufgabe ist es, die Zukunft zu formen, anstatt uns mit hohlen Begriffe wie Nachhaltigkeit zu begnügen und Greenwashing zu betreiben. Die Definition von Nachhaltigkeit, die ursprünglich aus der Wirtschaft kommt, muss immer wieder neu diskutiert und geklärt werden.

STANDARD: Sie haben 2007 gemeinsam mit Ihrem Büropartner Silvan Linden und drei weiteren Redakteuren das Magazin "Die Planung / A Terv" herausgegeben, dessen Veröffentlichungsdaten größtenteils in der Zukunft liegen. Wie darf man das verstehen?

Bartoli: Ja, wir haben Wissenschafter, Künstler und Architekten eingeladen, sich Szenarien auszudenken, und drei Hefte gemacht. Das erste war 2011 datiert, 25 Jahre nach Tschernobyl, das zweite 2036 und das dritte 2048, 200 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest. Die Ergebnisse waren sehr interessant, die 2048-Szenarien waren purer Orwell!

STANDARD: Die Dystopie ist offensichtlich faszinierender als die Utopie.

Bartoli: Weil sie offener ist als die Utopie. Dystopien beinhalten eine große Freiheit.

STANDARD: Städte, die zur Wildnis werden, futuristische Biologien: Ist das, was Sie machen, im besten Sinne Science-Fiction?

Bartoli: Definitiv. Science-Fiction liefert uns so viele Anreize und Werkzeuge, um unsere Routine zu durchbrechen, um Raum und Geschichte als Archäologie der Zukunft zu denken. Das gebe ich auch als Anreiz an die Studenten weiter. Es ist eine andere Art, Architektur zu erzählen. Wenn wir nur kleine Parameter ändern, ergeben sich radikale Zukunftsszenarien. (Maik Nowotny, 19.4.2018)