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1941 in Bulgarien geboren, wurde Julia Kristeva in Frankreich in den 1970ern zur intellektuellen Lichtgestalt. An dem Bild kratzen nun Spionagevorwürfe.

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Eine der nun öffentlich gemachten Akten.

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Blick in die Akten.

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In den Akten findet sich unter anderem auch dieses Kuvert mit dem Absender "J. Kristeva".

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Wien – Roland Barthes hat den Sager vom "Tod des Autors" geprägt. Er berief sich dabei auf Julia Kristeva, die schon vor ihm den Autor "entmachtet" hatte. Jeder Verfasser eines Textes steckt für sie in einem Geflecht aus bereits existierenden Texten. Begriffe wie Originalität oder die Zuschreibung von Autorschaft werden dadurch schwierig.

Seit Ende März wird der Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin eine Urheberschaft zugeschrieben, die sie aus ganz anderen und persönlichen Gründen nicht nur anzweifelt, sondern abwehrt.

Sie soll, lautet der Vorwurf, einst für den bulgarischen Auslandsgeheimdienst gearbeitet haben. Ende 1970, geht aus nun öffentlich gewordenen Geheimakten hervor, notierte ein Geheimagent die Rekrutierung "von J. Kristeva". Bis 1977 habe diese unter dem Decknamen "Sabina" Berichte über die linke und oppositionelle Szene in Frankreich zusammengetragen.

Mit jener war Kristeva gut vernetzt. Seit 1965 lebt die gebürtige Bulgarin in Paris. Ein Stipendium erlaubte der damals 24-Jährigen die Ausreise in den Westen. Sie selbst bezeichnet das als Flucht. Neun Monate sollte der Aufenthalt dauern, doch sie blieb darüber hinaus, studierte bei Roland Barthes und Jacques Lacan, trat der Gruppe Tel Quel bei. Tel Quel heißt übersetzt "Wie es ist" – man wollte den Herrschaftsverhältnissen mit Sprachkritik beikommen. 1967 heiratete Kristeva den Schriftsteller Philippe Sollers, seit 1973 unterrichtet sie an der Universität Paris VII.

Könnte sie sich diese Freiheit jenseits des Eisernen Vorhangs erkauft haben? Hat sie sich dafür bei der kommunistischen Regierung erkenntlich gezeigt? Bulgarische Staatsbürger durften sich zu jener Zeit nicht ohne Zustimmung des Staates in fremden Ländern niederlassen und hatten bei Zuwiderhandeln Repressionen zu befürchten. Dass Kristeva ganz ohne Gegenleistung in den Genuss eines solchen Privilegs gekommen sein soll, wollen oder können viele nicht glauben.

Symbolfigur des Feminismus

Aufgepoppt ist der Fall jetzt, weil sich die 76-Jährige an der bulgarischen Zeitschrift Literarischer Bote beteiligen sollte. Gesetzlich wird jeder vor 1976 Geborene in so einem Fall auf Geheimdiensttätigkeit durchleuchtet. Seither tobt eine Debatte.

Mit Aufsätzen und Büchern prägte Kristeva nicht nur den Poststrukturalismus, sie ist auch eine Symbolfigur des Feminismus und der Gender-Studies. Ihre intellektuelle Leistung zweifelt niemand an. Doch das Bild der moralischen Instanz wird durch die Diskussion infrage gestellt. Kristeva fühlt sich nun in ihrem Status als eine der bedeutendsten französischen Intellektuellen und Trägerin vieler Auszeichnungen desavouiert und streitet sämtliche Vorwürfe ab. Sie bezeichnet sie als "grotesk", "falsch" und "ehrverletzend". Dass es sich bei "Sabina" um sie handle, kann sie nicht nachvollziehen. "Die Akte ist voller Fehler", sagte sie zur Wochenzeitung Die Zeit. Die Hinweise dort hätten wenig bis nichts mit ihr gemein.

"Sabina" soll keine besonders hilfreiche, sondern eine widerspenstige Informantin gewesen und oft spät oder nicht zu Treffen erschienen sein. Das veranlasst einige Stimmen, sich auf Kristevas Seite schlagen. Jene rechnen ihr an, dass sie nur spärliche und eher unbrauchbare Berichte erstattete. Andere zweifeln das fast 400 Seiten starke Dossier wegen dieser Oberflächlichkeit an: Jeder x-Beliebige hätte diese Informationen zusammentragen oder erfinden können. Andere halten Akten totalitärer Regime per se für fragwürdig.

Eine Postkarte und viele Fragezeichen

Mittlerweile steht die Akte Nummer 8230 im Internet. Handschriftlich von Kristeva findet sich zwischen den Seiten mit Maschinenschrift jedenfalls nur eine wenig aussagekräftige Postkarte mit Urlaubsgrüßen. Der Rest von "Sabinas" Berichten an Agenten erfolgte mündlich. Manche der Seitenzahlen wurden geändert.

Wurde das Dossier also manipuliert? Kristeva meint, Behörden hätten aus Prestigegründen den Eindruck erwecken wollen, jemand wie sie stünde in ihrem Dienst. Entlastet sie das?

Schriftsteller Ilija Trojanov, selbst gebürtiger Bulgare, mutmaßt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anderes. Säuberung der Akten könnte im Gegenteil ein Hinweis sein, "dass die Behörden eine ehemalige Agentin schützen wollten". Denn Kristeva habe sich von Jugend an konformistisch mit der Partei verhalten, eine Zeitlang zudem für staatsnahe Zeitungen gearbeitet. Dass viele sie verteidigen, findet er "völlig unverständlich", ortet mangelnde "Kenntnis der Materie".

Kristeva ist nicht die erste Figur, die aus einem totalitären Regime kommend im Westen zur Lichtgestalt avancierte und Jahre später unter Spitzeleiverdacht geriet. Man denkt an Oskar Pastior oder Milan Kundera. Christa Wolf dagegen hat 1993 ihre Spionagetätigkeit in der DDR selbst öffentlich gemacht.

Hier steht Behauptung gegen Verteidigung. Fremde sind wir uns selbst heißt eine Schrift Kristevas. Sie hat aufgrund ihrer Biografie nun möglicherweise Stoff für viele neue Überlegungen. (Michael Wurmitzer, 11.4.2018)