Kellner kommen im fünfstöckigen Esspalast Goldener Dreifuß nur zum Servieren und Abservieren. Bestellt und kassiert wird via Handy.

Foto: Johnny Erling

Steinerne Qilin-Fabeltiere, Mischwesen aus Löwe, Drache und Pferd, bewachen den Eingang. "Jindingxuan" steht darüber, die Halle des Goldenen Dreifuß. So heißt der fünfstöckige Eßpalast im Norden Pekings. Er gehört zu einer Kette von 28 gleichnamigen Spezialitätenrestaurants in der Hauptstadt, die 24 Stunden geöffnet sind. Besitzer Du Zhunjiang gründete 1993 sein erstes Gasthaus. Er nannte es nach Chinas uralten dreifüßigen Opfergefäße.

Tradition wird groß geschrieben. Besucher stoßen beim Eintritt zuerst auf einen buddhistischen Hausaltar mit Früchteschalen als Opfergaben. Im Hauptsaal hängen über dem Büffet mit gedämpften Dim Sum-Spezialitäten schildergroße Bambusdeckel. Auf ihnen sind die Namen der vier großen Küchen Chinas gepinselt. "Chuan" steht für pfeffrige Sichuangerichte, "Lu" für Deftiges aus Shandong, "Yue" für kantonesische Speisen und "Huai" für den süßlicheren Geschmack aus Anhui. Alle Gerichte lassen sich rund um die Uhr ordern.

Doch das ist gar nicht so einfach seit Gründer Du seine Kette am 22. März komplett auf Digitalservice über Smartphones umgestellt hat. Auf den Tischen fehlen die Speisekarten, keine Bedienung fragt nach den Wünschen des Gastes. Niemand kommt, um zu kassieren.

Keine Bedienung, keine Speisekarte

Stattdessen besorgt das eine für den Goldenen Dreifuß maßgeschneiderte App. Der Gast muss sie nicht einmal mehr herunterladen. Sie aktiviert sich selbst, wenn er mit seinem Smartphone den auf der Ecke seines Tisches klebenden QR-Kode scannt. Er gibt seine Mobilnummer ein und die Zahl der Personen am Tisch. Ausländer haben Nachteile. Die Applikation versteht bislang nur Chinesisch.

Es ist Sonntag morgen, Zeit für ein traditionelles chinesisches Frühstück. 80 Gerichte stehen auf der Online-Speisekarte. Ältere Pekinger aus der Nachbarschaft, aber auch viele junge Ehepaare und Familien mit Kind zücken ihr Smartphone. Der Korrespondent tut es ihnen nach. Er wählt Breigerichte für zwei Personen, vier Sorten eingelegtes Gemüse, frittierte Youtiao-Fladen, Dandan-Nudeln und heiße Soyabohnenmilch. Die Rechnung zeigt 36,2 Yuan an (fünf Euro). Sie wird sekundenschnell abgebucht. Das App fragt dazu nach der Pinnummer für das jeweilige Konto der marktbeherrschenden mobilen Bezahldienste des E-Kommerz-Multi Alibaba (Ali-Pay) oder des Internetgiganten Tencent (Weixin-Pay).

Zwei Platzhirsche

Beide Konzerne managen mehr als 90 Prozent des bargeldlosen Verkehr in China. 772 Millionen Chinesen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nutzen derzeit das Internet, meist über Smartphone und zahlen damit auch. Aus ihren "digitalen Brieftaschen" gaben sie 2017 umgerechnet rund 13 Billionen US-Dollar aus. Alibabas Alipay hatte einen Anteil von mehr 54 Prozent daran, Tencents Weixin 38 Prozent.

Nicht allen Gästen des Traditionsrestaurants Goldener Dreifuß im Norden Pekings schmeckt, dass Speisekarte und Bezahlung nur mehr online verfügbar sind.
Foto: Johnny Erling

Drei Minuten später stehen die ersten Speisen auf dem Tisch. Die Küche ist mit dem App der Gäste ebenso verbunden, wie die Buchhaltung und die Bedienung. "Früher war eine Angestellte für drei Tische zuständig, brachte die Speisekarte, wartete auf die Bestellung. Heute schafft sie acht Tische," sagt die Geschäftsführerin der Restaurantkette, Zhang Xia.

Essen kommt schneller

Ihre knapp 3000 Angestellten iwurden 20 Tage geschult. Zwei Wochen nach Einführung des Systems sagt Zhang: "Wir brauchen keine Speisekarten mehr; die Gäste bekommen viel schneller ihr Essen." Die App merkt sich auch, wer was bestellt. Beim nächsten Besuch tauchen die Lieblingsspeisen ganz oben auf der Ónline-Karte auf. Aber nicht alle sind zufrieden. Ein älteres Paar kommt nicht zurecht. Zwei Männer beschweren sich: "Wir sind hier Gäste und wollen auch so behandelt werden." Zhang sagt: Die Bedienung helfe, oder nehme die Bestellung auf, wenn Kunden es ablehnen, über Smartphone zu bestellen, oder damit nicht umgehen können.

Pekinger können über Smartphone und App auch von zu Hause aus bestellen. Spezielle Lieferdienste sind vernetzt, darunter das 2009 als Startup gegründete "Ele.me". Heute ist es Chinas größter Bringdienst mit drei Millionen Boten in 1400 Städten und Motorradflotten. 130 Millionen Menschen ordern über "Ele.me", dessen Name bedeutet: "Bist Du hungrig?"

Neuer Einzelhandel

Kommerzriese Alibaba übernahm vergangene Woche "Ele.me" für umgerechnet 9.5 Milliarden Dollar. Der spektakuläre Deal passt zum neuen Geschäftsmodel seines Unternehmenschef Ma Yun, der bereits den digitalen Restaurantservice Koubei besitzt. Beide Plattformen ergänzen sich nicht nur als Restaurantdienst und Lebensmittel-Auslieferung. Sie bilden einen der Bausteine für die "Online to Offline" (O2O)-Strategie von Alibaba. Ma nennt sie den "neuen Einzelhandel" (new retail). Er kauft sich in Startup-Dienstleister ein, die ein Modell entwickelt haben, um die "letzten drei Kilometer" zwischen Verbraucher und dem, was er benötigt, in kurzer Zeit abzudecken. Das reicht vom Apotheker-Dienst bis zu Hema-Kaufhäusern, die online bestellte Waren innerhalb von 30 Minuten ins Haus liefern. 2017 habe Alibaba in 77 Projekte fast 90 Milliarden Yuan investiert (12 Milliarden Euro), rechnete die Zeitschrift "Blog" Ende März vor.

Kaum eine Woche vergeht ohne neue Übernahmen. Steigende Nachfrage aus den Mittelschichten, die über Smartphones nach Restaurants suchen und sich Speisen anliefern lassen, heizt den Wettbewerb um die Beherrschung eines Marktes an, der 2017 nach Chinas Wirtschaftspresse umgerechnet rund 30 Milliarden Dollar umstetzte.

Essen auf Rädern

Hauptkonkurrent von Alibaba ist der privatwirtschaftliche Internetkonzern Tencent, der für seine Kurznachrichten- und Bezahldienste WeChat und Weixin bekannt ist. Tencent steht auch hinter der Restaurant- und Lieferplattform "Meituan Dianping". Sofort nach Alibabas Kauf von "Ele.me" übernahm die Meituan-Gruppe die vor drei Jahren gegründete Leihfahrrad-Gesellschaft "Mobike" für 2,7 Milliarden US-Dollar, meldete jetzt das Finanzmagazin Caixin. Mit den Plattformen Meituan und Mobike verbindet Tencent den Restaurantservice mit innerstädtischer Mobilität.

Traditionspflege auf modern: Vor jedem Restaurant der Pekinger Kette Jindingxuan stehen Qilin-Fabeltiere als Bewacher.
Foto: Johnny Erling

Es geht nicht nur um Marktanteile. Der zukünftige Gewinn von Technikkonzernen wie Alibaba oder Tencent ist ihr Zugriff auf unvorstellbare Datenmengen. Mobike, in das Tencent früher schon investierte, besitzt neun Millionen GPS-gesteuerte Leihräder, deren Nutzer auch mit Weixin-Pay zahlen. Mobike expandiert und ist in 15 Ländern vertreten, sagte der für Auslandspartnerschaften zuständige Florian Bohnert. Mobike Räder produzierten täglich 30 Terrabyte an Bewegungsdaten. Das hilft den Städten bei ihrer Verkehrsplanung.

"Weniger empfindlich"

Tencent könnte aber dank der Daten von GPS und Weixin-Pay auch erfahren, wer etwa mit einem Mobike, von wo aus, wann und wie oft in den Goldenen Dreifuß zum Frühstücken fährt. Es wüßte seinen Namen, wieviel er bezahlt und wo er danach hinfährt. Das klingt harmlos. Doch zusammen mit den Daten anderer Smartphone-Anwendungen weiß Tencent am Ende alles über eine Person.

Die Frage, wozu die Daten verwendet werden und wer das überwacht, kommt auch in China auf die Tagesordnung. Robin Li, Gründer und Vorstandchef des googleähnlichen Suchsystem Baidu, der inzwischen in die Entwicklung künstlicher Intelligenz und Autonomes Fahren investiert, verriet Ende März wie leichtfertig in Chinas Chefetagen gedacht wird. Auf dem China Development Forum in Peking sagte er, dass Chinesen, wenn es um den Schutz ihrer Privatsphäre geht, "offener und viel weniger empfindlich sind." Sie seien bereit, "ihre Privatsphäre preiszugeben, wenn sie dafür ein Mehr an Bequemlichkeit und Effizienz für sich eintauschen können." Li erntete wütende Online-Kommentare, die sogar die Parteipresse nachdruckte. Die Blogger begehrten auf: Wer erlaube ihm so verächtlich über Chinas Internetnutzer zu sprechen?

Weltmarktführer IT-Vermarktung

Die neue technologische Revolution krempelt nicht nur alles um, sondern katalputiert China zum Weltführer der IT-Vermarktung im Einzelhandel. Dominic Barton, Unternehmenschef der Consultinggruppe von McKinsey, sagte auf dem gleichen Forum, dass 42 Prozent des E-Kommerz der Welt auf China entfallen und 60 Prozent der bargeldlosen mobilen Bezahlung.

Es geht rasant weiter. Erst Ende 2017 führte die Restaurantkette Goldener Dreifuß ihr neues Smartphone-Servicesystem ein. Entwickelt wurde es von dem im Mai 2015 gegründeten Start-up Fujian Mike Internet Technology Co Ltd, das es auch installierte. 30 große Markenketten sind ihre Kunden, darunter die traditionellen Pekingenten-Restaurants Quanjude.

Massen solcher IT-Entwickler drängen auf den Markt, und mehr Restaurants übernehmen ihre Systeme. An Zukunftsmodellen wird in Hangzhou gebastelt. Dort entwickelt die zu Alibaba gehörende Plattform Koubei ein "smartes" Restaurantkonzept ohne Bedienung und ohne Smartphone. Gäste werden durch Gesichtserkennung registriert und zahlen auch mit ihrem Gesicht. Sie wählen sich ihre Speisen durch Antippen über ein LED-Display auf ihrem Tisch und holen sie sich selbst von der Küche ab. Der Charme aus Sicht der Betreiber: Restaurants könnten so ein Viertel der Kosten einsparen. (Johnny Erling, 9.4.2018)