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Ikonen der deutschen 68er-Bewegung: Gretchen Dutschke mit ihrem mann Rudi Dutschke 1970 in London. Rudi Dutschke verstarb 1979 an den Folgen des Attentats auf ihn.

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Gretchen Dutschke schätzte auch die Hilfe ihres Mannes im Haushalt. Rudi Dutschke stopfte und kochte.

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Gretchen Dutschke, "1968: Worauf wir stolz sein dürfen", € 22,70 / 240 Seiten, Hamburg: Kursbuch Kulturstiftung 2018.

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Ulrich Chaussy, "Rudi Dutschke. Die Biografie", € 26,99 / 528 Seiten. Droemer, 2018.

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STANDARD: Rudi Dutschke wird als "Ikone der Studentenbewegung" bezeichnet, sein Name steht wie kein anderer in Deutschland für das Jahr 1968. Was machte seine Faszination aus?

Dutschke: Ich glaube, die Leute haben gespürt, dass er aufgrund seines christlichen Hintergrunds eine echte Menschenliebe hatte. Die Lehre von Jesus, dass Liebe das oberste Gebot sein solle, war ihm sehr wichtig.

STANDARD: Was sind Ihre stärksten Erinnerungen an ihn?

Dutschke: Nicht der Studentenführer. Ich habe ihn in einer Kneipe kennengelernt, da war er noch völlig unbekannt. Er war eine interessante Person, immer offen und gar nicht rechthaberisch. Vielmehr wollte er zuhören und diskutieren. Auch zu Hause hat er versucht, sich zu beteiligen, er machte sauber und beschäftigte sich mit den Kindern.

STANDARD: Das war damals selbst in Ihren Kreisen offenbar eine fortschrittliche Ausnahme.

Dutschke: Absolut. Rudi stammte aus einer Kleinstadt in der DDR, er war der vierte Junge, und die Mutter hätte sich eigentlich ein Mädchen gewünscht. Also hat sie ihm ein paar Fertigkeiten im Haushalt beigebracht. Er konnte ein bisschen kochen und stopfen. Aber das war damals wirklich nicht die Normalität.

STANDARD: Nicht mal in Ihren Kreisen, wo gesellschaftliche Gleichberechtigung eine große Rolle spielte?

Dutschke: Nein. Ich stamme aus den USA, und dort habe ich nicht erlebt, dass Frauen so diskriminiert wurden. Es war ein Schock in Berlin. Die Frauen im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) sprachen ohnehin nicht viel. Wenn sie es taten, war es meist vernünftig, aber sie wurden von den Männern ausgelacht. Aus deren Sicht sollten Frauen nur schön sein, putzen und tippen, aber nicht diskutieren.

STANDARD: Sprachen Sie Ihren Mann darauf an?

Dutschke: Ja, ich habe ihm erzählt, wie schlimm es im SDS war. Ihm war das gar nicht bewusst. Aber er war ratlos und wusste nicht, was er tun sollte. Man muss schon sagen: Es war nicht sein Hauptanliegen, da etwas zu ändern. Also nahm ich es selbst in die Hand.

STANDARD: ... und begründeten eigentlich die berüchtigte Kommune 1 in Berlin, der später Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Uschi Obermaier angehörten.

Dutschke: Ich begründete die Kommune 1 nicht. Aber ich kannte Kommunen aus den USA. Mir gefiel die Idee, dass alle Bewohner gleiche Pflichten im Haushalt und auch gleiche Rechte beim Diskutieren haben sollten. Männer sollten also auch Hausarbeit machen, damit die Frauen zum Lesen kamen. Rudi fand das gut, also lud ich Leute ein, und wir gründeten eine Kommunen-Diskussionsgruppe. Am Schluss waren wir allerdings schon 60 Leute.

STANDARD: Warum zogen Sie und Ihr Mann dann doch nicht ein?

Dutschke: Es gab viele Ideen. Als Dieter Kunzelmann (Politaktivist und Kopf der linksterroristischen Gruppe Tupamaros West-Berlin, Anm.) von München nach Berlin kam, um sich auch einzubringen, wusste ich, das wird katastrophal. Seine Vorstellung war, zunächst die bürgerliche Persönlichkeit zu zerstören. Es sollte keine Beziehung geben, alle sollten mit allen Sex haben. Das wollten Rudi und ich aber nicht. Wir wollten eine Kommune, wo an politischen Zielen gearbeitet wird.

STANDARD: Sie wählten den bürgerlichen Weg und heirateten sogar.

Dutschke: Es hatte mit Heiraten nichts zu tun. Allerdings machte Heiraten vieles einfacher. Damals durften Unverheiratete ja nicht mal gemeinsam in einem Hotelzimmer schlafen. Außerdem bekam man in Berlin zur Heirat Geld, und das brauchten wir.

STANDARD: Eigentlich ist ein Revolutionär ja nur mit der Revolution verheiratet. Oder?

Dutschke: Ja, das dachte Rudi auch eine Zeit lang, am Anfang unserer Beziehung. Ich ging dann in die USA zurück. Aber nach ein paar Monaten bat er mich in einem Brief, wieder nach Berlin zurückzukommen.

STANDARD: Wann begann für Sie die 68er-Bewegung?

Dutschke: Eigentlich Ende der 50er, als der SDS von der SPD getrennt wurde und sich als außerparlamentarische kritische Gruppe etablierte, die Gesellschaftsanalysen durchführte. Rudi trat 1966 ein und brachte Änderungen. Zuvor war der SDS ein marxistischer Diskutierkreis gewesen. Rudi aber meinte, Theorie ohne Praxis würde keine gesellschaftlichen Änderung herbeiführen.

STANDARD: Was wollte Ihr Mann konkret verändern?

Dutschke: Zunächst war ihm die Demokratisierung der Universität und der Gesellschaft wichtig. Die autoritären Strukturen aus der Nazizeit waren in Institutionen und im Denken der Menschen ungebrochen, alte Nazis waren in Politik, Justiz, Polizei und der Wissenschaft an den Schalthebeln. Rudi sah aber auch, dass es nicht nur um Deutschland ging, sondern auch um die Befreiungsbewegung in Südamerika, Asien und Afrika.

STANDARD: Anfangs setzte er im marxistischen Sinn auf die Arbeiter. Warum kam er davon dann ab?

Dutschke: Dass die Arbeiterklasse sich auflehnt, war bei Marx noch möglich, aber die Arbeiterklasse Ende der 60er-Jahre war daran nicht interessiert. Es war die Aufbauzeit im Wirtschaftswunder, viele wollten nicht die Vergangenheit aufarbeiten, sondern sich ihr kleines Glück schaffen. Rudi setzte dann auf Studenten, Randgruppen und die weltweiten Befreiungsbewegungen.

STANDARD: Aber es war nicht klar, wodurch das bestehende kapitalistische System ersetzt werden sollte.

Dutschke: Das war das große Problem. An der autoritären und antidemokratischen Sowjetunion wollte man sich nicht orientieren, aber auch nicht am Westen mit dem Kapitalismus. Rudi sagte oft: Wir können die Frage nach dem alternativen Wirtschaftssystem nicht beantworten. Sie muss aus der Situation herauswachsen.

STANDARD: Am konkretesten war noch die Idee mit der Räterepublik nach Vorbild der Pariser Kommune im Jahr 1871.

Dutschke: Ja, da dachte Rudi zunächst an West-Berlin, später an Gesamtberlin. Er wollte statt der Parlamentarier vom Volk gewählte, weisungsgebundene Räte einsetzen. Eine Räterepublik hat gegenüber dem Parlamentarismus den Vorteil, dass Lobbyisten mit viel Geld keinen Einfluss ausüben können. Zuerst hatte er Hoffnung, dass so was möglich wäre, weil die Unterstützung nach dem Attentat auf Benno Ohnesorg groß war.

STANDARD: Der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 bei einer Demo gegen den Schah-Besuch in Berlin von einem Polizisten erschossen.

Dutschke: Danach taten Politik, Polizei und Springer-Presse so, als seien die Studenten mit ihren Protesten daran schuld. Das empörte auch viele Bürger, Rudi bekam viel Zustimmung, es gab allerdings auch viel Aggression gegen uns. Weihnachten 1967 wurde Rudi in einer Kirchengemeinde zusammengeschlagen. Er war eben der Unruhestifter, der die bestehende Ordnung infrage stellte. Da wusste er, es würde noch lange dauern, bis es zu Veränderungen kommt.

STANDARD: Doch sie kamen. Welches sind für Sie die wichtigsten?

Dutschke: Demokratie ist heute in Deutschland akzeptiert, autoritären Strukturen in Ausbildung und Erziehung wurden abgeschafft, Kinder werden nicht mehr geschlagen. Frauen sind viel stärker gleichberechtigt, es gab die sexuelle Befreiung, Konformität wurde nicht mehr gefordert.

STANDARD: Sind Sie zufrieden?

Dutschke: Wir können stolz auf die 68er sein. Aber ich sehe auch Gefahren: Jene, die das Erreichte kaputtschlagen und aus Deutschland wieder eine autoritäre, naziverseuchte Gesellschaft machen wollen, werden stärker. Es hängt jetzt davon ab, wie viel Widerstand Rechtsextreme bekommen. Ihre Motive sind Hass und Ausgrenzung. Unsere waren Solidarität und Emanzipation.

STANDARD: Im Rückblick: Was ist damals nicht gut gelaufen?

Dutschke: Nach dem Attentat auf Rudi gab es zwei große Fehler: Einige von uns konnten nicht erkennen, dass unsere Ideen schon tief in die Gesellschaft eingedrungen waren, und meinten, man sollte strenger nach alten marxistischen Mustern vorgehen – so zogen sie sich in maoistisch und leninistisch orientierte K-Gruppen zurück, die Bewegung zersplitterte. Und einige gingen – wie die RAF – in den Untergrund. Es war vor allem die Frauenbewegung, die unsere antiautoritären Ideale weitertrug.

STANDARD: War die Solidarität für die Studentenbewegung nach dem Attentat 1968 für Sie tröstlich?

Dutschke: Ich habe die Wut der Menschen verstanden und dass sie ihr Ausdruck geben wollten. Getröstet hat es mich nicht. Rudis Gehirn war zerfetzt, er musste Sprechen und Schreiben erst wieder lernen. Zwar kamen sein Elan und seine Begeisterung wieder, aber er hatte nach dem Attentat oft Angst.

STANDARD: Was täte Rudi heute?

Dutschke: Zunächst ist er ja bei den Grünen eingestiegen. Wäre er dort geblieben, hätte er versucht, ihnen eine etwas linkere Richtung zu geben. Die waren im Herbst 1979 in Bremen ins erste deutsche Landesparlament eingezogen. Wir wollten ja nach Bremen ziehen. Aber dann starb Rudi am 24. Dezember 1979.

STANDARD: Wäre er heute noch bei den Grünen?

Dutschke: Sie machten, als sie in Regierungen kamen, immer mehr Kompromisse, das wäre für Rudi ein Problem gewesen. Aber ich weiß: Es wäre sehr schön, wenn er hier wäre. Er würde weiterkämpfen und sagen: Wir können nicht zusehen, wie alles von Rechtsextremisten kaputtgeschlagen wird. Der Kampf geht weiter. (Birgit Baumann, 8.4.2018)