Gibt es in Ungarn noch kritische Stimmen? Ja, es gibt sie, sagt der ungarische Ökonom András Vértes, der ein Forschungsinstitut in Budapest leitet. Aber wer lautstark seine Meinung über die Regierung äußert, muss mit Gegenangriffen rechnen. Wie er auch selbst erfahren musste. Wenn Viktor Orbáns Partei Fidesz es will, kramt sie "jeden Blödsinn" heraus, um ihre Gegner anzuschwärzen.

STANDARD: Die Fidesz regiert seit 2010 in Ungarn. Hat sie in dieser Zeit eine einheitliche wirtschaftspolitische Strategie entwickelt?

Vértes: Die Partei ist in einer ökonomisch sehr schwierigen Zeit an die Macht gekommen. Ihre oberste Priorität war daher die Sanierung des Staatshaushalts. Die Regierung hat sich an die von der EU vorgegebenen Regeln gehalten, das Defizit unter drei Prozent gedrückt. Seit 2012 sinkt die Staatsverschuldung kontinuierlich. An sich war das richtig. Interessant ist, wie man das geschafft hat.

Ökonom András Vértes leitet das unabhängige Forschungsinstitut GKI in Budapest, das auf Wirtschaftspolitik spezialisiert ist.
Foto: GKI

STANDARD: Und wie?

Vértes: Zunächst wurden die Ersparnisse aus den privaten Pensionskassen entnommen und de facto verstaatlicht. Den Menschen wurde erklärt, dass die privaten Kassen nicht funktionieren würden. Auch wenn das nicht gestimmt hat, haben die Leute ihr Geld aus den Kassen entnommen. Der Staat hat sich damit auf einen Schlag 3.000 Milliarden Forint gesichert (heute 9,6 Milliarden Euro, Anm.). Das ist für Ungarn eine gewaltige Summe. Zudem wurden 15 Sondersteuern eingeführt. Nur der Industriesektor wurde verschont, alle anderen Bereiche, vor allem der Dienstleistungssektor, wurden mit neuen Abgaben belegt.

STANDARD: Hatte das irgendwelche Konsequenzen?

Vértes: In den vergangenen acht Jahren gab es so gut wie keine neuen ausländischen Direktinvestitionen: Es floss so viel Geld aus dem Ausland herein, wie abgezogen wurde. Das lag wesentlich daran, dass die Regierung lange Zeit herausposaunte, dass sie die ungarischen Unternehmen gegenüber den ausländischen bevorzugt. Hätte die Fidesz das wirklich gemacht, wäre das ja wahrscheinlich in der schwierigen Situation sogar sinnvoll gewesen. Aber in Wahrheit hat man etwas ganz anderes getan.

STANDARD: Und zwar?

Vértes: Die Fidesz hat um sich eine Gruppe von wohlhabenden Unternehmern geschart, eine Art Klan, der ständig bevorzugt wird. Sie erhalten alle Möglichkeiten dazu, sich zu entwickeln, bekommen die allermeisten staatlichen Aufträge, oft wird ihnen das auf korruptem Weg zugeschanzt. Der große Teil der ungarischen Wirtschaft, die Klein- und Mittelbetriebe, jene Unternehmen, die sich nicht an die Fidesz und Orbán anbiedern, konnten sich dagegen nicht gut entwickeln.

STANDARD: Diese wirtschaftliche Elite, die die Fidesz stützt – was sind das für Leute: Sind das Agrar-, Industrieunternehmen oder Finanzinvestoren?

Vértes: Es ist eine gemischte Gruppe, die sich im Lauf der Zeit gewandelt hat. Viktor Orbán ist ein großer Fußballfan. Er hat schon an der Universität Fußball gespielt, aus diesem Kreis rekrutierte sich zunächst der größte Teil dieser Truppe. In Ungarn gibt es heute 20 bis 30 wirklich große Unternehmer. Ein großer Teil von ihnen hat Orbáns Politik akzeptiert. Einige, weil sie sie richtig finden, andere, weil sie vom System profitieren. Die EU-Fördergelder spielen in der ungarischen Wirtschaft eine sehr große Rolle. Das Wirtschaftswachstum lag im vergangenen Jahr bei vier Prozent, ein beachtlicher Teil dieser guten Entwicklung geht auf die üppigen Förderungen zurück. Von der Verteilung des Geldes haben große Unternehmerbarone profitiert. Wer verteilt die Mittel? Die Regierung.

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Orbán bei einem Spiel der ungarischen Nationalmanschaft. Ungarns Premier gilt als großer Fußballfan – und nutzt den Sport auch, um Kontakte zu knüpfen.
Foto: Reuters

STANDARD: Kontrolliert das niemand? Wo sind die Gerichte, wo die Opposition?

Vértes: Die Fidesz hat die ungarische Verfassung mit ihrer Zweidrittelmehrheit umgeschrieben. Die neue Verfassung hat die Rechte der Zivilgesellschaft und der Opposition eingeschränkt. Hinzu kommt die strategische Postenverteilung. Die Oberstaatsanwaltschaft in Ungarn wird von einem Fidesz-nahen Mann geführt. Die Notenbank wird von einem Ex-Minister Orbáns geleitet. Es gibt also keine unabhängigen Köpfe mehr an der Spitze der wichtigen staatlichen Institutionen – und damit hat man die Unabhängigkeit der Institutionen selbst ausgehebelt.

STANDARD: Aber auch in Österreich werden Posten häufig nach Parteizugehörigkeit vergeben.

Vértes: Ungarn ist eine deutlich weniger entwickelte Demokratie als Österreich. Wir sind nach 1945 nicht durch eine lange Phase der Demokratisierung gegangen. Natürlich gibt es in Österreich auch Sauereien, aber irgendwann werden die Sümpfe ausgetrocknet. In Ungarn ist das anders. Wer auf dem Land einen guten Job möchte, zum Beispiel für die Gemeinde arbeiten will, darf nicht anders sprechen oder denken, als die Fidesz oder Viktor Orbán das tut.

STANDARD: Es gibt in Ungarn viele kritische Stimmen. Warum dringen diese nicht durch?

Vértes: Der Staat kontrolliert einen großen Teil der Medien. Im staatlichen Fernsehen sind zu gut 90 Prozent die Ansichten der Fidesz zu hören. Orbán-nahe Unternehmer halten außerhalb von Budapest alle relevanten Zeitungen in ihren Händen. Außerhalb der Hauptstadt kann man im Wesentlichen nur Fidesz-gesteuerte Informationen aus Zeitungen, dem Fernsehen und Radio bekommen. Das ist natürlich über das Internet leicht zu umgehen, da gibt es eine Fülle von kritischen Onlinemedien und Plattformen. Man kann jede Meinung in Ungarn finden. Aber das dringt eben nicht überall gleich durch, besonders nicht auf dem Land.

STANDARD: Aber müssen Kritiker etwas befürchten? Sie sprechen ja auch offen.

Vértes: Das Forschungsinstitut, das ich leite, ist bekannt, auch ich selbst bin es. Ich muss nichts befürchten, denke ich. Aber wer den Kopf ein bisschen weiter aus dem Sand steckt, wird attackiert. Einer der oppositionellen Kandidaten, Gergely Karácsony (kandidiert für Párbeszéd Magyarországért, eine Mitte-links-Partei, Anm.), hat mich in seinen Beraterstab geholt. Nachdem das passiert ist, berichteten Fidesz-nahe Medien, dass ich von George Soros gesteuert sei. Das wurde behauptet, weil ich 1989 als Berater in einem Komitee fungierte, dessen Aufgabe es war, den friedlichen Regimewechsel in Ungarn vorzubereiten. Soros saß in diesem Komitee, ich habe aber nie einen Cent von Soros erhalten. Die Menschen werden mit Vorwürfen angeschwärzt, an denen vielleicht zu einem Prozent etwas dran ist. Da wird jeder Blödsinn herausgekramt, der im Regelfall nicht einmal etwas mit Politik zu tun hat.

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"Lassen wir nicht zu, dass Soros am Ende lacht": Plakat einer Regierungskampagne in Ungarn gegen den US-Investor. Das Bild stammt aus dem Jahr 2017, die Kampagne wurde inzwischen gestoppt. Soros wird dennoch immer wieder öffentlich von der Fidesz attackiert.
Foto: Reuters

STANDARD: Gibt es in Ungarn abseits von Soros und Migranten Themen, über die im Zuge des Wahlkampfs für die Parlamentswahl am kommenden Sonntag öffentlich geredet wird?

Vértes: Es gäbe genug soziale Probleme. Es gibt in Ungarn 110 Spitäler, 40 bis 50 wären genug. In jedem Spital gibt es topmoderne Abteilungen und andere Teile, die in einem katastrophalen Zustand sind, wo die Bedingungen erschreckend sind. Die Opposition thematisiert Korruption, Armut, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Die Regierung spricht aber nur über Migranten und Soros. Sie geben unglaubliche Geldmengen für Meinungsumfragen aus und haben das Gefühl, mit diesen Themen am ehesten die Menschen verschrecken zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass Viktor Orbán sich in den vergangenen acht Jahren kein einziges Mal einer echten öffentlichen politischen Debatte gestellt hat. Er ist nie im TV oder im Radio aufgetreten bei den Diskussionsrunden der Kandidaten. Er hat jeden Freitagmorgen im Kossuth-Radio eine Viertelstunde Sendezeit zur Verfügung. Dort sitzt zwar ein Journalist mit dabei, aber Orbán darf Monologe halten.

STANDARD: Aber warum kann die Opposition nicht eine andere Geschichte erzählen: Visionen schaffen, die Probleme thematisieren?

Vértes: Man muss ehrlich sagen: Auch die Opposition ist nicht wirklich gut. Sie ist zersplittert und relativ schwach. Als Mitte-rechts-Partei gibt es in Ungarn nur die Fidesz. Rechts von ihr gibt es noch die Jobbik, der Rest des Spektrums besteht aus sechs, sieben Parteien. Davon sind vielleicht drei relevant.

STANDARD: Leben die Ungarn heute besser oder schlechter als vor dem Machtantritt der Fidesz?

Vértes: In Ungarn ist der Lebensstandard ab dem Jahr 2006 rasant gesunken. Die Regierungen hatten sich zu stark verschuldet und waren gezwungen einzusparen, was seinen Preis hatte. Dann brach die Wirtschaftskrise aus – und der Lebensstandard der Menschen ist noch stärker gesunken. Das ging nach dem Machtantritt der Fidesz 2010 zunächst so weiter. Erst 2016 haben wir wieder das Niveau von 2006 erreicht. Inzwischen geht es wieder aufwärts – derzeit sogar rasant. Die Reallöhne sind im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Im Vergleich zum Tiefpunkt der Krise 2012 haben sich die Lebensbedingungen deutlich verbessert. Das ist ja einer der Gründe dafür, dass sich die Fidesz noch halten kann.

STANDARD: In Ungarn fehlen im Arbeitsalltag Migranten. Die Kebab-Verkäufer sind oft Einheimische. Braucht das Land nicht ausländische Arbeitskräfte, nun, da der Aufschwung da ist?

Vértes: Dieses Problem gibt es. Die Regierung ist bereit dazu, bestimmte Einwanderer ins Land zu lassen. Zunächst waren das die Ungarn aus Serbien und Rumänien. Die kommen wollten, sind schon hier oder weitergezogen nach Österreich oder Deutschland. Es gibt etwas Einwanderung aus der Ukraine. Als Ökonom denke ich, dass der Mangel an Arbeitskräften aber nicht durch Einwanderung gelöst werden kann, auch wenn ich gewisse Zuwanderung für notwendig erachte. Wichtiger wäre, die Automatisierung zu fördern, die in vielen Klein- und Mittelbetrieben sehr schwach ausgeprägt ist.

STANDARD: Trauen Sie sich eine Vorhersage zu, wie die Wahl am Sonntag ausgeht?

Vértes: Die Fidesz befindet sich in ernsthafter Gefahr. Sie führt in den Meinungsumfragen, diese könnten aber verfälscht sein. Bei der Nachwahl des Bürgermeisters in der südungarischen Kleinstadt Hódmezővásárhely (Ende Februar, Anm.) haben Umfragen auch gesagt, dass die Fidesz mit zehn Prozentpunkten gewinnen wird – sie hat dann aber mit mehr als zehn Prozentpunkten verloren. Die Menschen haben Angst. Sie sagen nicht unbedingt, wen sie wirklich wählen. Vieles hängt davon ab, wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird. Wenn die Menschen gefragt werden "Soll die Fidesz an der Macht bleiben?", sagt die Mehrheit Nein. Viele sehen aber keine wirkliche Alternative an der Urne. Vieles hängt davon ab, ob die Opposition Menschen mobilisieren kann. Aber selbst wenn die Fidesz gewinnt, wird sich Orban ändern, weil er nun unter Druck steht.

STANDARD: Und zwar wie?

Vértes: Ich glaube, er wird Ungarn in Richtung des Euro führen. Das wird ohnehin Jahre dauern, aber diesen Prozess wird er einleiten. Die EU-Fördergelder werden aber 2021 zurückgehen. Für Länder, die dem Euro beitreten wollen, wird die Union extra Mittel bereitstellen – Orban wird das nutzen. Er wird auch einige der schrecklichsten Figuren um sich herum austauschen. Er wird den Deckel etwas vom Topf nehmen. (András Szigetvari, 5.4.2018)