Ein mir sehr lieber und heute hochangesehener Kollege der politischen Qualitätsschreibe meinte einst im kleinen Kreis, dass sanfte Beugungen der historischen Wahrheit und Abläufe im Sinne der besseren Geschichte durchaus zulässig seien – vorausgesetzt, es ändere nichts an den großen Zusammenhängen und den Gefühlen der Beteiligten.

Also behaupte ich hier jetzt einfach keck, dass der Besuch der WIG in meiner Kindheit fixer Bestandteil des familiären Ostersonntagsprogramms war. Dass wir, brave Favoritner, uns alljährlich auf diesen 1974 zur Wiener Internationalen Gartenschau von der Creme der Landschafts- und Gartenarchitekten nach allen Regeln des Gartenfuturismus der 1970er-Jahre gestalteten 650.000 Quadratmetern einfanden. Und dass ich und mein Bruder unter der Magnetschwebebahn, im Japanischen Garten und zwischen allerlei Kunst- und Klamaukobjekten dann Ostereier suchten.

Foto: Thomas Rottenberg

Klingt doch gut. Erst recht als Einleitung einer Geschichte, in der ein Erwachsener am Ostersonntag diesen Park seiner Kindheit wiederbesucht – und beläuft.

Nur: Blöderweise stimmt das so halt nicht. Weil wir zu Ostern mit absoluter Sicherheit nie dort waren, wo sich die Massen unserer Mitfavoritner mit ziemlicher Sicherheit wälzten. Und "die WIG" war genau das: 1974 ein lustiger Ort, an dem die städtische Wirtschaftswundersozialdemokratie in all ihrer Glorie vorexerzierte, was sie als futuristische Gartenkunst der dankbaren Herde der Genossen (und ein paar Verirrten) vorzulegen geneigt war: Das Volk kam, flanierte – und staunte.

Aber schon zwei oder drei Jahre danach war alles, was visionär, revolutionär und tatsächlich spannend gewesen war (Magnetschwebebahn! Wasserspielplätze! Mondlandschaft-Spieplatz!), wieder abgebaut. Es sprach auch nie wieder wer davon – so, als wäre es nie da gewesen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war gern in der WIG. Als Kind wirkte sie riesig. Gigantisch. Wohl auch, weil es da eine schier unüberschaubare Vielfalt an Pflanzen (die waren mir aber ziemlich egal), Attraktionen und Installationen gab. Es roch nach Schwefel und Chlor. Man konnte Ponys reiten und Elektrogokart fahren. Man konnte liegebestuhlte Wiesen, Kunstinstallationen (freistehende Türen ins Nirgendwo, aus denen Geräusche kamen, wenn man sie öffnete), einen Sessellift (wobei ich mir da nicht mehr sicher bin), Gemeinschaftsrutschen und abenteuerliche Klettertürme erleben. Oder die Fertigteilhaussiedlung besuchen. Für mich damals das Unbegreiflichste in einer Welt seltsamer Wunder: Konnte man sich Wohnen tatsächlich aussuchen?

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war im Kindergartenalter. Mein Horizont und meine Erfahrung sagten: Man wohnt im "Bau". Im Gemeindebau. Wobei mir das Wort als solches nichts sagte. Das Speckgürtel-Einfamilienhaus aber war das Gegenteil von dem, wo ich, meine Spielkameraden, Kindergartenfreunde und Volksschulkollegen wohnten: Hier, im Süden der Stadt, gab es Wienerfeld und Per-Albin-Hansson-Siedlung. Meist Bauten aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Niedrige Räume. Hellhörig. Vierteltelefon. Klopfstange. Hausbesorger.

Am 1. Mai wurden Fähnchen aus den Fenstern gehängt und wurde marschiert. Einmal im Monat kam der Parteikassier, um nach dem Rechten zu sehen. Das war hier damals angeblich links, aber in jedem Fall unhinterfragt alternativlos: Es waren die 1970er-Jahre. Dass es irgendwo so etwas wie "die 68er" gegeben haben könnte, spielte keine Rolle: Die U-Bahn fuhr nicht nur nicht bis Oberlaa – sondern noch gar nicht. (Die U1 wurde 1978 eröffnet, Karlsplatz – Reumannplatz). Die WIG aber war dort, wo wir lebten: hinterm Mond.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich habe diesen zehnten Bezirk und sein Mindset verlassen, sobald es ging. Dass ich am Ostersonntag zurückkam, hatte einen ganz einfachen Grund: Zweieinhalb Stunden "Longrun" standen auf dem Plan. Weil ich an den letzten Zuckungen der (hoffentlich) letzten Erkältung dieses Winter laborierte, wollte ich nicht im Rudel rennen oder gar eine Gruppe pacen – und außerdem auch etwas anderes als meine üblichen "beaten tracks" abtraben. Mit der U1 nach Oberlaa, dann durch die WIG und dann die Liesing entlang, war die Idee. Sollte mir die Luft ausgehen, würde halt ein Spaziergang draus werden.

Oberlaa spielte es aber nicht, weil der Zug nur zur Alaudagasse fuhr. Warten? Nö. Also rauf und los. Mit Blick auf die "Chinesische Mauer", einen "Bau", der mir schon als Kind Albträume gemacht hatte.

Foto: Thomas Rottenberg

Nördlich der Mauer liegt der Volkspark. Hügelig. Mit Teichen und Pinienwäldchen. Und einem kleinen Amphitheater. Eigentlich wirklich nett. Zumindest heute. Früher war er für uns Kinder strictly "off limits": Meine Eltern laborierten weder am Helikoptersyndrom, noch waren sie hyperängstlich. Damals hatten Kinder meist einen recht weiten, unkontrollierten Bewegungsradius. Aber bestimmte Parks und die (damals noch Komplett-Gstettn) Wienerberggründe waren No-go-Areas. Die Gründe kannten wir. Später, als Beinahe-Puberteln, wurde genau das der Reiz: Wir waren dann wohl Teil des Problems.

Foto: Thomas Rottenberg

In der WIG war ich sicher 20 Jahren nicht. Vermutlich noch länger. Statt wie geplant vom Süden kam ich vom Norden, von oben, in den Park. Zeit verzerrt nicht nur Selbstbild und Heldentaten, sondern auch den Raum. Das Erste, was mir auffiel: Der Park ist bei weitem nicht so groß, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Das Zweite? Ein paar Schlüsselattraktionen gibt es noch: den "Liebesgarten" mit seinen Drahtobjekten. Die blaue Wetterstation, die nie funktionierte. Die runden Steinplatten, die über Teiche führten. Und auch die Topografie erkannte ich wieder: Das alte WIG-Gefühl stellte sich sofort ein – inklusive der kindlichen Wehmut über all das, was verschwunden ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein zentrales Element hier waren immer die "Tortenecken" in den Teich. Hier waren die Geräusch-Türbögen gestanden. Hier hatte ich später Skateboardfahren gelernt. Die Betonrampen gibt es noch. Auch wenn es in meiner Erinnerung mehr waren.

Auch das benachbarte "künstlerische" Betonmauerngeviert steht noch. Angeblich sollte es einen "häuserlosen Innenhof" simulieren: vier Betonmauern im Rechteck, an den Ecken offen. Man konnte reinschauen oder sich reinzwängen. Kunst im öffentlichen Raum wird fast immer anders genutzt, als es hyperintellektuellen Kunstkonzept-Ausheckern vorschwebt. Schon in den 70er-Jahren hatte das Ding genau eine Funktion: Als Klo – auch heute stinkt es hier noch impertinent.

Foto: Thomas Rottenberg

Am Südende des Kurparks kam dann eine Überraschung: Dass die Therme Wien heute anders aussieht, dass es die Kurhalle längst nicht mehr gibt und dass das AUA-Gebäude mit der klobigen DC9-Flugzeug-Leitwerk-Architektur längst nicht mehr steht, weiß ich. Aber dass auch die Eingangsbauten zur WIG seit Ewigkeiten geschleift sind, nicht. Nicht, dass es schade um sie wäre: Sie waren in etwa so elegant und schön wie das "Tourotel" – das aber immer noch steht. Als verwahrlost-hässliche Landmark einer Architektur, die so gar nichts mit dem zu tun hatte, was Stadt und Stil heute ausmacht. Irgendwann in den Nullerjahren wurde vollmundig der Plan eines neuen Thermen-Hotels hier ventiliert. Er wurde stillschwiegend begraben. Blöderweise steht aber die schiache Hütte halt noch da. Glaubt man dem, was diverse Immobilienvermarktungs-Seiten sagen, soll hier ab Juni 2018 gebaut werden. 2019 sollen dann superschicke Vorsorgewohnung und Microliving-Apartements Investoren beglücken. Projektname: "Taba-Tower". Ich glaube derlei erst, wenn ich es sehe.

Foto: Thomas Rottenberg

Sobald man nicht versucht, einer Zone Zeitgeist und Moderne mit Gewalt aufzustempeln, fehlen diese Bruchlinien dann meist. Wenige hundert Meter südlich des Kurparks liegt Oberlaa. Ein alter Ort, den die Stadt noch nicht ganz verschluckt hat. Durch ihn fließt die Liesing.

Natürlich sieht es heute hier am renaturierten Fluss anders aus, als in meiner Kindheit – dennoch wirken die Veränderungen organisch. Gewachsen. Natürlich. Ich warf im Kopf eine Münze – und beschloss, dem Bach in seiner Flussrichtung zu folgen. Richtung Schwechat.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte Rückenwind. Und das nicht zu knapp. Dass das noch ein Thema werden würde, war abzusehen: "Starker Wind mit Böen bis zu 80 km/h", hatte die Wetter-App angekündigt.

Die Liesing fließt in einem langgezogenen Linksbogen in etwa die südliche Wiener Stadtgrenze entlang. Man passiert die Kirche in Unterlaa samt römischer Ausgrabungen, ein paar Hügel, auf denen schon Kelten gesiedelt haben, Gleis- und Autobahnanlagen und – weit weg – die Luegerkirche am Zentralfriedhof.

Der Weg am Ufer ist ein ruhiger, ebener Rad-, Spazier- und Flanierweg, auf dem man sehr schöne Blicke auf den renaturierten Fluss genießen kann. Oft aber läuft man einfach ins Nichts. Dann wird Laufen wirklich meditativ: Wirklich viel ist hier selten los.

Foto: Thomas Rottenberg

Das ändert sich auch in Schwechat nicht. Wo sich Liesingbach und Schwechat vereinen und man am Schloss Altkettenhof, dem heutigen Bezirksgericht, vorbeikommt, nehme ich mir jedes Mal vor, mir das Schloss und seine Geschichte einmal genauer anzusehen. Tue ich natürlich nie. Aber irgendwann bestimmt. Vielleicht.

Weiter, durch die Stadt den Fluss entlang, könnte ich jetzt bis Mannswörth und Albern laufen und mich dann über den "Friedhof der Namenlosen" donauaufwärts zum Alberner Hafen zurückarbeiten.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber das wäre mir heute ein bisserl zu weit, nicht zuletzt angesichts des bevorstehen Gegenwindvergnügens. Also biege ich knapp vor dem Knoten Schwechat auf die Schlossmühlgasse und stoße auf die Alberner Hafenzufahrtstraße. Das Hochwasserschutzmäuerchen ist kein Hindernis: Dort, wo ich drüberspringe, haben wohl schon viele den Weg über die Böschung zu den alten Speichern genommen.

So, wie der zehnte Bezirk ein Spielplatz meiner Kindheit war, ist diese Zone ein Stück meiner frühen 20er: Fast jede Wiener Band hat vor und zwischen den damals noch grauen Lagertürmen Fotos gemacht. Am Weg standen hier alle paar Meter noch alte Ein-Mann-Beobachtungsbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Gegend war entrisch. "Qualtingeresk" nannte es ein Freund.

Foto: Thomas Rottenberg

Davon ist heute nicht mehr viel zu sehen.

Aber viel Ruhe hat man hier, etwa am "Blauen Wasser", immer noch. Nicht nur, weil kaum jemand weiß, dass es diese Ecken überhaupt gibt, sondern auch, weil man erst einmal hierherfinden muss: Mit dem Auto kommt man nicht wirklich einfach her – und muss dann auch noch hatschen.

Foto: Thomas Rottenberg

Öffentlich? Eine Weltreise. Auch mit dem Rad ist es ein echter Weg aus der Stadt hier heraus. Und zu Fuß? Nun ja: Für die meisten Stadtläuferinnen und -läufer ist es schon "abenteuerlich", wenn sie sich in die Regionen des unteren Praters, also südöstlich vom Lusthaus, vorwagen. Dann zum "Praterspitz", dem Zusammenlauf von Donaukanal und Donau, oder noch weiter zu laufen oder zu wandern tut sich kaum wer an. Warum auch?

Foto: Thomas Rottenberg

Das hat noch einen Grund: den Weg zurück.

In Wien bläst der Wind in der Regel donauabwärts. Während man im Prater noch (halbwegs) geschützt ist oder ausweichen kann, steht man am Treppelweg voll im Wind – und kommt ihm nicht aus: Vom Alberner Hafen geht es ewig flussaufwärts.

Eh malerisch und in seiner Ruhe schön – aber am Ostersonntag blies der Wind angeblich konstant mit 30 km/h donauabwärts. Plus Böen. Die sechs Kilometer entlang des Ufers fühlten sich dementsprechend an.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Das hatte ich auch vorher gewusst. Und mich ganz bewusst darauf eingelassen. Weil ich noch immer eine Restverkühlung spazieren trug, hatte ich genau deshalb trockenes und winddichtes Gewand im Rucksack. Es blieb zwar dort, aber: Better safe than sorry.

Klar waren diese sechs Kilometer im Wind bis zur "Ponderosa" (dem alten Wasserturm bei der Freudenau) zaach. Klar haute mir das die aufgrund der zahllosen Fotostopps ohnehin gemächliche Pace vollends zusammen. Klar fluchte ich.

Nur: na und? Schon in der U-Bahn heim war das vergessen. Denn wenn ich schnell sein will, laufe ich anders. Und anderswo. Aber das war hier und heute eben nicht das Thema gewesen.

Die Route auf Strava gibt es hier. (Thomas Rottenberg, 4.4.2018)

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