Mehr als 50 Jahre dauerte es, bis Südkorea ein Mahnmal für die Opfer der Jeju-Massaker baute. Heute sind ihre Namen in Marmor verewigt.

Foto: Manuel Escher

Marmor und abstrakte Formen: Der Jeju Memorial Park erinnert an Gedenkstätten für Genozide.

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Alle Gebiete, die weiter als fünf Kilometer von der Küste entfernt waren, machte die Regierung zur Sperrzone.

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Go Wan-soon durfte jahrelang nicht über ein Massaker in ihrer Jugend sprechen.

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Noch immer ist es für viele schwer, über das Geschehene zu reden. "Sa Sam" nennen sie das Ereignis dann nur, über das sie mehr als 50 Jahre lang nicht sprechen durften: "Vier Drei". "Sa Sam" beschreibt das Datum, den 3. April 1948, an dem auf der südkoreanischen Insel Jeju, die heute ein beliebtes Ferienparadies ist, eines der ersten großen Massaker nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Mehr als 30.000 Menschen wurden getötet, als Regierungstruppen gegen linke Aufständische, die der Nähe zum kommunistischen Nordkorea verdächtigt waren, vorgingen. Das entspricht einem Zehntel der Bevölkerung.

Über das "Ereignis vom 3. April", wie es neutral heißt, zu sprechen, war in den Jahrzehnten danach tabu, denn die Schergen kamen zum Großteil aus der eigenen, aus der südkoreanischen Armee. Angefeuert wurden sie auch von der Führungsriege des US-Militärs in Korea. Erst langsam haben sich Regierungen in Seoul der Geschichte gestellt. Mittlerweile lassen sie auch ausländische Journalisten an den Schauplatz führen – zu Feldern, auf denen Familien hingerichtet wurden, und zu Grabhügeln kleiner Kinder. Die liberale Regierung will zeigen, dass das Land bereit ist, sich den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte zu stellen. Präsident Moon Jae-in wurde auch deshalb am Dienstag zu Gedenkfeiern in Jeju erwartet.

Massaker beim Spielplatz

Das Massaker ist in Südkorea auch nach 70 Jahren noch ein Politikum. Vor allem Linksliberale haben nach dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er-Jahren eine Aufarbeitung gefordert. In den Phasen, als die Konservativen regierten, sagt Go Wan-soon, "hat diese Stimmung immer wieder gestockt". Die 79-Jährige weiß, was es heißt, nicht über das Erlebte sprechen zu dürfen. Sie sah im Dorf Bukchon-ri als Kind, wie Verwandte auf der Wiese beim Spielplatz erschossen wurden. Gesamt wurden dort in zwei Tagen 398 Menschen ermordet. Jahrzehnte schwieg sie, aus Angst, zur Kommunistin gestempelt zu werden.

Wenn Go heute davon erzählt, wie ihr Haus abgebrannt und ihr Onkel und viele Nachbarn vor ihren Augen ermordet wurden, wie sie im nächsten Ort US-Soldaten sah, die sie seither verantwortlich macht, und wie sie aufs Festland zog, "weil ich diesen Ort hasste", dann klingt es trotzdem fast ein bisschen mechanisch. In den vergangenen Jahren hat sie nachgeholt, was sie vorher nie durfte. Sie spricht nun über das Geschehen – vor Besuchern in Bukchon-ri.

Fatale Gewaltspirale

Spät entstanden ist auch der Jeju Memorial Park, der 2003 bis 2008 in die Hügellandschaft gebaut wurde. Marmormonumente in abstrakten Formen und Tafeln mit tausenden weiß- und goldfarbenen Namensinschriften erinnern an die Opfer. Der Stil ist an Genozidmonumente angelehnt.

Im Museum erfährt man jene Eckdaten von "Sa Sam", über die mittlerweile Einigkeit herrscht: Nach der japanischen Besatzung fanden auf Jeju 1945 linke Gruppen Zulauf, die sich für ein einheitliches Korea einsetzten. Das missfiel Seouls starkem Mann Syng-man Rhee, der sich mithilfe der US-Militärregierung im Mai 1948 zum Präsidenten Südkoreas wählen lassen wollte – unter Inkaufnahme einer endgültigen Abtrennung der sowjetisch besetzten Nordhälfte. Bei Protesten in Jeju kam es mehrfach zu Gewalt.

Am 3. April 1948 überfielen 500 Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Polizeistationen, auch hierbei gab es Tote. Ihr Aufstand war schnell niedergeschlagen. Aber er war Anlass für eine Großaktion der Armee. Die ging nun mit rechten Milizen gegen die Sozialdemokraten vor, die sie verdächtigte, mit Nordkorea im Bund zu stehen – laut Archiven eher zu Unrecht.

Eine Insel als Sperrgebiet

Die Aktionen trafen vor allem Zivilisten. Alle, die über fünf Kilometer von der Küste entfernt wohnten, wurden aufgefordert, ihre Dörfer zu verlassen. Wer nicht folgte, wurde als Mitglied der Rebellen behandelt – auch die Familie der damals neunjährigen Frau Go. Als die Massaker 1949 an Intensität verloren, waren fast 30.000 Menschen tot. Gräuel gab es auf beiden Seiten, sie hielten bis 1954 an – doch 80 Prozent der Toten verantwortete die Armee. Immer wieder hatte die US-Militärregierung zu Erfolgen bei der Niederschlagung gratuliert.

Das ist eine Mischung, die das Gedenken schwierig macht. Syng-man Rhee gilt vielen konservativen Koreanern als einer der Väter des modernen Landes. Die USA, denen einige Opfer Mitschuld geben, sind die Schutzmacht gegen Nordkorea. 25.000 US-Soldaten sind immer noch da. In Schulbüchern steht das Massaker ganz am Ende. "Auf den Seiten, die man am Ende des Semesters leider nicht mehr schafft", sagt eine Mitarbeiterin von Jeju Dark Tours sarkastisch. Die NGO hat sich darauf spezialisiert, Touren zum Gedenken an "Sa Sam" zu organisieren.

Trotzdem wurde das Massaker für liberale Südkoreaner zu einem Symbol für das Unheil der rechten Diktatur. Nicht von ungefähr war es 2003 der liberale Präsident Roh Moo-hyun, der sich im Namen des Landes für die Untaten entschuldigte. Einen großen Platz im historischen Bewusstsein Koreas nimmt "Sa Sam" aber nicht ein. Nur rund ein Prozent der jährlich 15 Millionen Jeju-Touristen besucht das Mallorca Südkoreas aus "historischen und kulturellen Gründen". Wer an den Stränden, über Felder und an den Klippen der Ferieninsel entlangspaziert oder die Ferienparks besucht, weiß vom historischen Grauen meist nichts.

Ort für Gipfeltreffen

Das verdrängte Massaker könnte die Insel aber über Umwege in die Geschichtsbücher bringen. Südkorea hat auf der Suche nach einer Deutung des Geschehens einen Ausweg gefunden: Jeju wurde 2005 als "Friedensinsel" deklariert – wohl auch, weil das Streben nach Frieden und Harmonie allein noch keinen Täter voraussetzt, den man verantwortlich machen müsste. Gern machte Seoul Jeju zum Ort politischer Gipfel.

Gouverneur Won Hee-ryong, ein Liberalkonservativer, hat sein Eiland als den Ort vorgeschlagen, an dem sich im Mai US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un treffen sollen. Wahrscheinlich ist diese Wahl nicht, aber selbst wenn es dazu kommt: Dass Trump dabei einen Wunsch der Opfer erfüllt, gilt als ausgeschlossen. Sie fordern eine Entschuldigung der USA für deren Rolle beim Massaker. (Manuel Escher aus Jeju, 3.4.2018)