Es ist ein schmales Büchlein, gerade einmal 60 Seiten dick und mit einem blasstürkisen Umschlag, das zum Überraschungserfolg in diesem Bücherfrühjahr wurde. Weder ist der Text aktuell, er wurde vor 50 Jahren geschrieben, noch ist er einfach zu lesen. Dennoch griffen bereits über 50.000 Leser zu Hannah Arendts Die Freiheit, frei zu sein. Auf der Spiegel-Bestseller-Liste befindet sich der philosophische Text derzeit auf Platz fünf.

Eine ungewöhnliche Karriere für einen posthum veröffentlichten Essay, die sich selbst Fachleute nicht recht erklären können. In dem Buch geht es um Freiheit und Revolution und darum, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit politisches Handeln überhaupt gelingen kann. Freiheit ist für Arendt nämlich gleichbedeutend mit einer aktiven Teilhabe am öffentlichen Diskurs.

Man kann an die Idee der antiken Polis denken – und wird damit nicht ganz falsch liegen. Man kann aber auch an die Gesellschaft heute denken und sich fragen, wie es mit der Verwirklichung der Arendt'schen "Freiheit" steht. Jahrzehntelang konnten wir uns auf die Grundfeste, auf denen der öffentliche Diskus steht, verlassen. Sie scheinen mittlerweile von Rissen durchzogen.

Eine "große Gereiztheit" (so der Titel eines anderen Sachbuches in diesem Frühjahr) hat uns erfasst. Der selbstbestimmte Bürger ist in die Defensive geraten. Die materiellen Grundlagen, die für Arendt eine Bedingung dafür waren, "frei" zu sein (so die These des Buchs), werden zunehmend infrage gestellt. Die diskursiven Voraussetzungen, die eine aktive Beteiligung an der heutigen Polis erst ermöglichen, werden durch das Geschäft mit der Desinformation beschädigt.

Verunsicherung greift um sich, und es ist dieser Hintergrund, der den unglaublichen Erfolg des für Fachleute kaum überraschenden Textes von Hannah Arendt erklären könnte. Hier werden grundsätzliche Fragen unseres demokratischen Zusammenlebens gestellt – und hier werden vorsichtig Antworten formuliert, nach denen unsere Gesellschaft offensichtlich giert.

Wenn christliche Menschen in den kommenden Tagen das Osterfest begehen, dann verhandeln auch sie die Grundlagen ihres Glaubens. Der Karsamstag beginnt in absoluter Stille und endet mit einem feierlichen Gottesdienst in der Osternacht. Gedacht wird der Auferstehung Christi von den Toten und damit an den Durchgang vom Tod ins Leben.

Wie immer man dazu steht: Dies ist die Glaubensgrundlage des Christentums, und einmal im Jahr versammeln sich die Gläubigen, um seiner zu gedenken. Oder um es theologisch auszudrücken: den Glauben zu erneuern. Atheisten mögen dieses Ritual mit einer gewissen Skepsis betrachten (oder sich mit gutem Recht dagegenstemmen), an einer Tatsache kommen sie aber nicht vorbei: Damit die Grundlagen einer Gemeinschaft lebendig bleiben, muss man sich ihrer regelmäßig versichern.

Das Christentum hat dafür (wie jede andere Religionsgemeinschaft auch) die Form der Feier gewählt.

Diese hat auch in unserem demokratischen Gemeinwesen eine wichtige Funktion. Genau so bedeutend ist allerdings die diskursive Durchleuchtung jener Übereinkünfte, die uns als Gemeinschaft zusammenhalten. Der Erfolg von Hannah Arendts Büchlein zeigt, wie groß der Bedarf dafür ist. (Stephan Hilpold, 1.4.2018)