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Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung: Martin Luther King hält beim Marsch auf Washington seine berühmte Rede "I have a dream". 250.000 Menschen demonstrierten im August 1963 für Jobs und Freiheit.

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Er starb auf dem Balkon des Lorraine Motels in Memphis. Ein einziger Schuss beendete am 4. April 1968 das Leben von Martin Luther King. Abgefeuert wurde er von James Earl Ray, einem bekannten Rassisten und Kriminellen, der damals auf Platz 277 der Liste der meistgesuchten Verbrecher des FBI rangierte. Kurz nach sieben Uhr abends wurde King für tot erklärt, der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger starb im Alter von 39 Jahren.

Der afroamerikanische Intellektuelle Cornel West war damals 15 Jahre alt. Er beschreibt die Stimmung an diesem Tag: "Es war niederschmetternd. Wenn sie jemanden von der Strahlkraft und Bedeutung eines Martin Luther King wie einen Hund abknallen, was bedeutet das erst für mein Leben?"

Mit Kings Ermordung endete, was Peter Guralnick den "Southern Dream of Freedom" nannte. Peter Guralnick ist der bedeutendste Chronist US-amerikanischer Popmusik, sein Buch Sweet Soul Music beschreibt die Verbindungen von Soulmusik und Politik. Denn Musik war ein ständiger Begleiter der Bürgerrechtsbewegung, das Traditional We Shall Overcome ihre inoffizielle Hymne, und King selbst nannte die Musik in einer seiner Reden die "Seele der Bewegung".

Treibstoff Hoffnung

Die Wurzeln des Naheverhältnisses von Musik und schwarzer Politik liegen in den Kirchen. Dort organisierten die Nachfolger der ins Land verschleppten Sklaven jene sozialen Notwendigkeiten, von denen sie der Alltagsrassismus abschnitt. In den Kirchen pflegten sie ihren Glauben und ihre Traditionen. Dort sprachen sie einander Mut zu und sangen ihre Lieder. Diese handelten von Trauer, der Freude und dem Treibstoff des menschlichen Lebens, der Hoffnung. Reverend King kam aus der Kirche. Ihre Musik war ein Teil von ihm, sie begleitete seinen gewaltfreien Kampf für die Gleichstellung der Afroamerikaner und der Armen in den USA bis an sein Ende.

HISTORY

Memphis, wo er ermordet wurde, war die Musikhauptstadt der Welt. In der Stadt am Mississippi wucherten Country und Blues, Rock 'n' Roll und Soulmusik. Die Afroamerikaner gaben buchstäblich den Ton an, die Musik war der Politik um viele Jahre voraus. In den 1950ern und 1960ern entstanden im Süden viele kleine Labels und Studios. Spätestens seit Elvis Presleys Welteroberung mit ursprünglich schwarzer Musik war klar, dass man damit gutes Geld verdienen konnte. In die Frequenzen der schwarzen Radiostationen klinkten sich immer mehr weiße Jugendliche ein, in vielen Studios wurde längst ohne Rücksicht auf Hautfarben musiziert.

Schwarze und weiße Kids

Oft lagen diese nur wenige Minuten vom Headquarters des örtlichen Ku-Klux-Klan entfernt. Das brachte Probleme, doch die lauerten vor der Tür. Dahinter arbeiteten schwarze und weiße Musiker am selben Ziel: Sie wollten Hits schreiben. Die Aufhebung der Segregation war dabei selten ein politischer Akt; es war Pragmatismus, der den Rassismus aushebelte. Der Songschreiber und Produzent Dan Penn sagte, es sei logisch gewesen, mit Schwarzen zu arbeiten, sie hätten einfach besser gesungen als die Weißen.

Das Soul-Label Stax aus Memphis war im Süden der USA das erfolgreichste seiner Zeit. Während Motown in Detroit schwarze Popmusik für den weißen Markt produzierte, brachte Stax das weiße Publikum ohne Anbiederung zur schwarzen Musik. Die Hausband von Stax bestand aus Jungs aus der Nachbarschaft, schwarzen und weißen Kids wie Isaac Hayes, Steve Cropper, Booker T. Jones oder Duck Dunn. Von 1960 an produzierten sie dutzende internationale Hits – als sie das erste Mal nach England flogen, schickten ihnen die Beatles Limousinen, um sie abzuholen.

Als Martin Luther King erschossen wurde, änderte sich alles. Die Tat säte Misstrauen. Ihre Ungeheuerlichkeit empfanden viele schwarze Musiker als ein Zeichen dafür, dass sie sich in falscher Sicherheit gewähnt hatten.

In Guralnicks Buch Sweet Soul Music erinnern sich Isaac Hayes und der weiße Bassist Duck Dunn an diese Tage. Dunn erzählt, wie er zum Studio fuhr, um seinen Bass zu holen, und dort mit Hayes sprach. Sie waren Freunde und hatten viele Hits zusammen aufgenommen. Plötzlich kamen Polizeiautos. Cops sprangen auf die Straße und richtete ihre Pistolen auf Hayes. Sie dachten, er bedrohe den weißen Dunn.

Eine sanfte Revolution

Die Sache ging glimpflich aus, doch wie sich so eine Situation nach Jahren friedlicher Zusammenarbeit anfühlte, beschreibt Dunn mit dem Satz: "It makes you feel like shit."

Ursprünglich dominierten Kirchenlieder und afrikanische Traditionals den Soundtrack der Bürgerrechtsbewegung. Mit dem Aufkommen der Populärmusik erweiterte sich das Spektrum um Folk, Blues und später Soulmusik. Der rasante Aufstieg der Popmusik multiplizierte die Unterstützung der Bewegung erheblich. Einer ihrer großzügigsten Finanziers war Harry Belafonte.

Der heute 91-jährige New Yorker war ein schwarzer Star, dessen Popularität die Rassenschranken überwunden hatte. Seine 1956 erschienene Platte Calypso war das erste Album der Geschichte, das sich über eine Million Mal verkauft hatte. Insgesamt soll er an die 150 Millionen Scheiben verkauft haben. Belafonte war in der Politik und im Showbiz bestens vernetzt. Er dinierte mit den Kennedys und soff mit Marlon Brando. Den mobilisierte er ebenso für die Bürgerrechtsbewegung wie Sidney Poitier, Sammy Davis Jr., Tony Curtis, Paul Newman, Charlton Heston, Burt Lancaster, Lena Horne und andere mehr. Diese Stars machten die sanfte Revolution Kings attraktiv und sexy: Die Themen aus den Nachrichtensendungen fanden zusehends Eingang in Musik und Film: 1964 schrieb Sam Cooke sein wichtigstes Lied. Nachdem er von einem Holiday Inn wegen seiner Hautfarbe abgewiesen worden war, schrieb er das prophetisch anmutende A Change Is Gonna Come.

1963 starben bei einem rassistisch motivierten Bombenattentat in Birmingham vier schwarze Mädchen auf den Stufen einer Kirche: Nina Simones wütendes Mississippi Goddam thematisierte das Verbrechen.

R-E-S-P-E-C-T

Billie Holidays' Lynchmorde beklagendes Strange Fruit war zu dem Zeitpunkt bereits ein morbider Klassiker. Bob Dylan behandelte 1962 in Oxford Town die gewalttätigen Proteste gegen James Meredith – der war der erste afroamerikanische Student in Oxford, Mississippi. Aretha Franklin eignete sich 1967 ein Lied von Otis Redding an und transformierte dessen Botschaft in ein mitreißendes, sich millionenfach verkaufendes Plädoyer für Gerechtigkeit, den Song R-E-S-P-E-C-T. Die Bürgerrechtsbewegung dröhnte aus den Radios und toppte die Charts. Dann fiel in Memphis der tödliche Schuss.

In über 100 US-Städten kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. 40 Tote und über 20.000 Verhaftungen waren die Folge. Die Anführer der Bürgerrechtsbewegung waren entweder tot, in Haft oder befanden sich in Schockstarre, die Entertainer sprangen ein: Belafonte organisierte eine Kundgebung in Memphis mit Kings Witwe, in Boston schrieb James Brown Geschichte.

Landesweite Krawalle

Dort war für 5. April ein Konzert des Mr. Dynamite angesetzt, 15.000 Besucher wurden erwartet. Angesichts der landesweiten Krawalle wollte Bürgermeister Kevin White das Konzert absagen. Der schwarze Stadtrat Tom Atkins überzeugte ihn, das Konzert stattfinden zu lassen. Atkins wollte mit einer TV- und Radioübertragung der Show die Bürger ruhig und in den Häusern halten. Und das mit James Browns Hilfe. Der hielt zwar nichts von Kings Idee des gewaltlosen Widerstands, unterstützte aber die Sache.

Es gelang. Ein paar Mal stand das Konzert an der Kippe des Abbruchs, als schwarze Kids die Bühne stürmten und Bostoner Polizisten sie abführen wollten, doch auf James Browns Bühne führte nur James Brown Regie. Er beruhigte Cops und Publikum. Boston blieb verschont. Eine Doku von David Leaf erinnert an diesen Abend.

King wurde einige Tage später in Atlanta beigesetzt. Mahalia Jackson sang sein Lieblingslied, das Gospel Precious Lord, Take My Hand. Noch 13 Jahre nach seinem Tod wirkte Musik als Druckmittel. Stevie Wonder würdigte King mit dem Song Happy Birthday. Mit dem weltberühmt gewordenen Lied unterstützte Wonder die Forderung nach einem Martin Luther King Day. Es klappte: 1983 wurde er von Präsident Ronald Reagan zugesagt. Seit 1986 ist der dritte Montag im Jänner in den USA ein nationaler Feiertag: der Martin Luther King Day. (Karl Fluch, 4.4.2018)