Kranke Teile der DNA mit der Genschere herausschneiden: Das ist die Zukunft von Therapie.

Illustration: Francesco Cioccolella

Er habe sich seit Jahrzehnten auf Vorträgen wie ein Science-Fiction-Autor gefühlt, sagt Renier J. Brentjens, Onkologe am Memorial Sloan Kettering Cancer Center. Dort leitet er die Abteilung für Zelltherapeutika. Das heißt: Er will körpereigene Zellen dazu bringen, die wildgewordenen Krebszellen selbst besiegen zu können. Denn, so die Annahme, bei Menschen, die Krebs entwickeln, hat das Immunsystem versagt. Krebszellen konnten sich tarnen, sich verstecken und somit die körpereigenen Kontrollmechanismen austricksen.

Wissenschafter wie Brentjens haben die T-Zellen als Schlüsselfaktor im Krebsabwehrkampf seit zwei Jahrzehnten im Visier. Man wusste, dass sie bei Krebs versagen, man wusste auch, warum, "aber wir haben bei der Entwicklung von genetisch veränderten T-Zellen erst einmal viele Rückschläge erleben müssen", sagt er. Aber jetzt ist er "wirklich aufgeregt", weil ein Verfahren in die Medizin Einzug hält, das es in dieser Form in der klinischen Anwendbarkeit noch nie gegeben hat.

Mit Leukozyten arbeiten

Konkret meint er die CAR-T-Zelltherapie, die für zwei unheilbare hämatologische Erkrankungen in den USA seit August zugelassen ist. Es geht, grob betrachtet, um jene Erkrankungen, die von den B-Lymphozyten im Blut, also bestimmten weißen Blutkörperchen, ausgehen, spezifisch von jenen, die an ihrer Oberfläche einen Rezeptor mit der kryptischen Abkürzung CD19 haben. Ist das der Fall, sind die T-Zellen gegen den Krebs machtlos. Auch Chemotherapie oder Stammzelltransplantationen helfen dann nicht.

Was das heißt: Patienten sterben, es gibt keine Therapie für sie. Das können zum Beispiel Kinder mit einer sehr speziellen Form von Akuter Lymphatischer Leukämie sein, die genau diese Art von seltenen B-Zellen in sich haben. Oder aber auch Erwachsene mit einer bestimmten Form von B-Zell-Lymphom, das sogenannte diffus großzellige B-Zell-Lymphom (DLBCL) bzw. spezifische Arten von Myelomen. Es sind Erkrankungen, bei denen die etablierten Chemotherapien versagen, Patienten, die nach Abschluss einer Therapie immer wieder Rückfälle erleiden. Es sind jene Patienten, die "schlechte Prognosen" haben, wie Mediziner das nennen.

Kranke Zellen ausfiltern

Was aktuell besonders auffällt: Vor allem bei den seltenen Spielarten von Erkrankungen mit sehr spezifischen biologischen Merkmalen werden gerade Fortschritte erzielt. Die CAR-T-Zelltherapie, die unter dem Handelsnamen Kymriah in den USA zugelassen ist, ist möglicherweise tatsächlich die erste echt personalisierte Therapie.

Warum? Weil tatsächlich körpereigene Zellen verwendet werden. Sie werden zuerst bei den kranken Patienten "geerntet", wie das im Fachbegriff heißt, dann werden sie schockgefroren und nach Morris Plaines in New Jersey geschickt. Dort betreibt Kymriah-Hersteller Novartis eine eigene Anlage, in der die schwachen T-Zellen von Patienten mit gentechnischen Verfahren präpariert werden, um so wie bei gesunden Menschen ihre Aufgaben der Erkennung und Vernichtung von Krebszellen wieder übernehmen zu können.

Die Wachtruppe des Körpers wird quasi neu aufmunitioniert. Das Ziel ist, ihnen die Eigenschaften, die sie zum Kampf gegen die aggressiven B-Zellen brauchen, einzuschleusen. Das passiert im Labor. Dort werden die Zellen dann auch vermehrt, schockgefroren und zurück an die Krankenhäuser geschickt: Am Ende dieses hoch aufwendigen Prozesses werden dem Patienten die neuen Zellen per Infusion verabreicht. Das alles dauert rund drei bis vier Wochen.

Funktionstüchtigkeit herstellen

CAR-T-Zellen funktionieren. Bei Emily Whitehead zum Beispiel. Sie war die erste Patientin, die im Children's Hospital in Philadelphia vor fünf Jahren diese neuartige Therapie gekommen hat. Als Experiment im Rahmen der ersten Studie. Sie ist bis heute gesund.

Auch in Österreich wurden Patienten an der Med-Uni Wien bereits mit CAR-T-Zellen therapiert, kann Chefhämatologe Ulrich Jäger berichten. "Wir waren eines von zehn Zentren in Europa, die an der Studien beteiligt waren", sagt er stolz. Von neun in Wien behandelten Patienten haben vier auf die CAR-T-Zelltherapie angesprochen. Es sind Patienten, die todkrank waren, aber heute ein normales Leben führen, kann er berichten, weil er sie regelmäßig zur Kontrolle sieht. Ein 70-jähriger Niederösterreicher ist seit 21 Monaten ohne Zeichen der Erkrankung "und lebt ein ganz normales Leben", sagt Jäger.

"Obwohl diese Therapie überaus vielversprechend ist, ist sie trotzdem immer noch sehr experimentell", sagt Michael Steurer, stellvertretender Leiter der Hämatologie an der Med-Uni Innsbruck und meint die mitunter lebensbedrohlichen Nebenwirkungen. Er findet die Studienergebnisse zur CAR-T-Forschung überaus beeindruckend. Innsbruck rüstet sich für die Innovation, "wenn wir das machen, müssen wir jederzeit ein Intensivbett zur Verfügung haben", sagt er und meint ein Konkurrenzprodukt von Kymriah, zu dem gerade für eine Studie medizinische Zentren ausgewählt werden.

Risiko Zytokinsturm

Die akuten Hürden in der CAR-T-Zelltherapie sind in den ersten drei Monaten nach Verabreichung der Infusion zu erwarten, zeigte sich in den Studien. Wenn die genetisch veränderten T-Zellen aus dem Labor im Körper der Patienten die kranken B-Zellen angreifen, kommt es zu einem sogenannten Zytokinsturm. Cytokine Release Syndrome ist der Fachbegriff eines mitunter lebensgefährlichen Zustandes. "Diese Nebenwirkungen sind beeinträchtigend, aber beherrschbar", kann Jäger berichten, der bereits einen Patienten im Zytokinsturm behandeln musste.

Allen Experten ist deshalb klar, dass man die breite Anwendung der Therapie abwarten muss. "Erst dann sieht man, was alles passieren kann", sagt Steurer und ist damit auf derselben Linie wie Stephen J. Schuster, Direktor des Lymphom-Programms an der Universität von Pennsylvania, der dort ebenfalls Pionierarbeit in Sachen CAR-T-Zelltherapie geleistet hat und der auch erst einmal die Langzeitergebnisse abwarten will.

Vorstellbar wäre, dass Patienten Allergien, Autoimmunerkrankungen oder andere Erkrankungen, die vom überaktiven Immunsystem verursacht werden können, entwickeln. Auch die Frage, wie lange die Wirkung der Therapie anhält, sei noch nicht geklärt, sagt Steurer.

Zugelassen in den USA

CAR-T-Zellen fordern das etablierte Gesundheitssystem allerdings noch auf ganz andere Weise. Einmal abgesehen vom enorm hohen Preis dieser Einmaltransfusion wird es die Krankenhäuser in ihren Organisationsstrukturen fordern. Die Labormedizin müsse viel enger als bisher in die Verfahren eingebunden sein, Krankenhäuser müssen Vorkehrungen treffen, um diese hoch spezialisierte Therapie durchführen zu können.

Denn auf lange Sicht, so die Vision, sollten die CAR-T-Zelltherapie wahrscheinlich vor Ort und nicht in den USA hergestellt werden. "Wir stehen erst am Anfang einer Reise", sagt auch Bernhard Mraz, in Österreich medizinischer Leiter bei der Pharmafirma Novartis, Hersteller von Kymriah. Gentherapien wie jene mit CAR-T-Zellen seien auch regulatorisch für einen Pharmahersteller komplettes Neuland, einstweilen gilt es, die vielen bürokratischen Hürden zu nehmen. Ob es eine Zulassung für Kymriah in Europa und/oder Österreich 2018 überhaupt geben wird, ist bisher unklar.

Kaum am Markt in den USA, bekommt Novartis auch schon Konkurrenz. Kite Pharma stellt ebenfalls CAR-T- Zellen für ein ganz ähnliches Krankheitsspektrum her. Das Unternehmen wurde gerade von Gilead Pharma gekauft, im Oktober kam die Zulassung für das Medikament namens Yescarta in den USA.

Krankheiten stoppen

Auch hier sind die Ergebnisse bei Non-Hodgkin-Lymphomen beeindruckend, bei zirka 50 Prozent der Patienten tritt das ein, was Hämatologen als Remission bezeichnen, die kranken Zellen können nicht mehr nachgewiesen werden. "Bei welchen Patienten die CAR-T-Zelltherapie nicht wirkt, müssen wir erst herausfinden", sagt Lymphom-Spezialist Schuster vom Universitätsspital in Pennsylvania.

Abgesehen von neuen Chancen für Patienten, dem "Engineering" von Medikamenten und den noch ausstehenden Langzeitergebnissen, kristallisierte sich aber auch heraus, dass die Immunonkologie – also jener Teil, in dem es zentral um das hochkomplexe menschliche Abwehrsystem bei Krebs geht – ein ganz eigener Bereich werden könnte. Einer, der fächer- und damit krankheitsübergreifende Gemeinsamkeiten zutage fördern könnte.

Insofern könnten die genetischen Erkenntnisse zu Krebs und dem Immunsystem auch die herkömmliche Einteilung in medizinischen Fachrichtungen infrage stellen. In einer Welt, in der genetische Daten transparent sind, damit schwere Krankheiten wie Krebs erkannt und geheilt werden können, ist das eine neue Art von Science-Fiction, über die US-Forscher Brentjens vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center sicherlich bereits heute schon nachdenkt. (Karin Pollack, CURE, 11.6.2018)