Ela Angerer ist eine Wiener Schriftstellerin. Im RONDO schreibt sie eine wöchentliche Parfumkolumne.

Foto: Peter Rigaud

Irgendwann bin ich dann wieder falsch abgebogen. Mein guter Freund, der Fotograf, und ich saßen in einer dieser Hipsterbäckereien, die auch am Sonntag offen haben. Auf dem Tisch vor uns zwei doppelte Macchiatos. Gedankenverloren beobachteten wir die Menschen in der Warteschlange. Plötzlich zog er sein unsichtbares Schwert und sprach: "Wer jetzt noch enge Jeans trägt, hat wirklich nichts verstanden."

Das war vor zwei Jahren und wirkte auf mich wie eine ansteckende Krankheit. Gefühlte Ewigkeiten hatten die Fashion-Victim-Viren als "Schläfer"-Agenten in meinem Körper gelebt. Jetzt meldeten sie sich mit voller Wucht zurück. Ursprünglich hatte ich ja auch einmal "was mit Mode" gemacht, mich dann aber vehement dagegen entschieden. Was waren sie schließlich, diese Polyester-Provokationen von Helmut Lang, im Vergleich zu Literatur und Theater?

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Flohmärkte als Fundgrube für Trendteile.
Foto: Getty Images/ViewApart

In der darauffolgenden Dekade las ich alles von Balzac ("Die Gesellschaft bringt dich um!"); besuchte im Wochenrhythmus postdramatische Bühnenspektakel ("Liebe ist kälter als das Kapital!"). Optisch genügten dafür Großmutterschuhe, Lidstrich und ein schwarzes Existenzialisten-Outfit. Eine Winter- und eine Sommergarnitur, mehr brauchte es nicht.

Und jetzt das. Mein Freund, der Fotograf, hatte es voll im Blick: Der Skinny-Look war tot wie Disco. Eine schenkelweite Mom-Jeans musste her. Gleich morgen würde ich mich darum kümmern. Parallel dazu entdeckte ich auf Ebay, endlich, eine Original-Bomberjacke von den US-Marines – weil die zum Fahrradfahren so praktisch ist. Die Post lieferte das gute Stück. Und ich stellte fest: Die Ärmel reichten mir bis zu den Knien. Ein Hüne war in der Jacke über die Meere gefahren. Trotzdem war sie natürlich toll und warm. Ich gewöhnte mich daran; ganz im Gegensatz zu all den Bekannten, die mir über den Weg liefen: Regelmäßig zeigten sie sich irritiert über den, wie sie es nannten, Maßstabssprung.

Mom-Jeans ersetzten die Skinny-Jeans.
Foto: Getty Images/iStockphoto/jeka33

Kleinere Spleens. Dabei hätte man es belassen können. Aber es ist ein unheimlicher Planet, auf dem ästhetische Trends ihr Unwesen treiben. Ständig stolpert man in Kausalzusammenhänge, ähnlich wie in der Quantenphysik: Während wir in der Hipsterbäckerei Kaffee tranken, revolutionierten neue Marken die Modewelt. Allen voran das Label Vetements, 2014 von zwei georgischstämmigen Brüdern gegründet. Ihre Kollektionen? Auf den ersten Blick nichts als absurde Übergrößen und hässliche Farbzusammenstellungen. Auf uns, die Generation Instagram, wirkte das wie Gift: Zuerst lehnte man es ab. Beim zweiten Mal Hinsehen überlegte man, was daraus zu machen wäre. Schließlich dauerte es nicht mehr lange, und man war restlos überzeugt.

Der XXL-Trend bei Vetements.
Foto: APA/AFP/Alain Jocard

Sowjetmarkt

Hier verkaufte jemand Sachen, die aussahen, als hätte man sie auf einem sowjetischen Flohmarkt liegen gelassen, zum Preis von drei bis sechs Monatsmieten – pro Stück. Das konnte man sich nicht leisten und wollte es auch nicht. Wozu auch? Den ganzen Look gab es zum Glück ja auch in den Secondhandshops von Caritas und Humana: billige Schirmkappen, XL-Trenchcoats im Stil von Horst Tappert, Hochwasserhosen mit ausgestelltem Bein, glänzende XXL-Trainingsanzüge, hundehaufenbraune Gürtel mit Schlaufen bis zum Unterschenkel. Den Rest besorgte man sich im Kaufhaus.

Die Folgen dieser ästhetischen Reiztherapie sind so gravierend wie der Übergang von der Gotik zur Renaissance: Männer mit Hipsterbärten? Schnee von vorgestern. Frauen in Chiffonkleidchen? OMG! In der U-Bahn sieht man jetzt immer öfter Menschen in Kapuzenpullis unter übergroßen Trenchcoats. Dazu kombinieren sie Sneakers mit Turbosohlen, als wären sie bereit für eine Mondlandung.

Auch Kaputzenpullis dürfen jetzt (über-)groß sein.
Foto: APA/AFP/Bertrand Guay

Ich entsorgte meinen halben Kleiderschrank. Die Größenverhältnisse stimmten nicht mehr. Jetzt trage ich Pullis, die so riesige Fledermausärmel haben, dass sie beim Händewaschen regelmäßig im Waschbecken ertrinken. Mom-Jeans habe ich hinter mir gelassen. Heute ist meine beste Hose so weit, dass man sie auch als Schlafsack verwenden kann. Einige meiner Blusen sehen aus wie lange Nachthemden. Der Freizeit-Hoodie könnte als Zelt durchgehen. Meine Schwester, die auf dem Land lebt, warf mir vor kurzem an den Kopf: "Nimmst du Drogen, oder hast du die falschen Freunde?"

Was kann man einem normalen Menschen darauf antworten? Hübsch kann jeder, das hier ist Avantgarde, also klug und witzig und subversiv! Die Technik des Nichtverstehens, jeder Logik entrissen. Mit anderen Worten: Die Bedeutung einer Prada-Handtasche kann jeder nachvollziehen. Im Zeitalter von Ironie und Postmoderne geht es um den Sprung in der Optik, um Verstörung – das ist interessant.

Sportschuhe kann jeder, avantgardistische Sneakers muss man verstehen.
Foto: Louis Vuitton

Geruch nach Ziegenstall

"Eigentlich will man doch seinen Typ unterstützen. Und nicht solche Ablenkungen am Fuß", sagt meine Freundin, die Schauspielerin, über die angesagten Monsterturnschuhe. Sie selbst verstört lieber mit ihrem neuen Parfum: eine spezielle Oud-Variante, die im Abgang nach Ziegenstall duftet. Ja, auch das ist plötzlich hip. Gut riechen kann schließlich jeder. Und abends trägt sie gerne Pumps mit transparenten, futuristischen Absätzen, architektonisch leicht eingeknickt.

Ist es sinnentleert und kurzsichtig, der eigenen Aufmachung so viel Aufmerksamkeit zu widmen? So kann man es natürlich sehen. Aber für uns Trendopfer gilt immer noch der muntere Satz von Oscar Wilde: "Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach Äußerlichkeiten."

Äh, ja. Interessanterweise höre ich jetzt wieder angenehme Musik. Soulklassiker wie The Flamingos ("I Only Have Eyes for You") und Al Green ("Simply Beautiful"). Harter Rock zu diesem ganzen Stilterror, das wäre dann doch zu viel.

Und manchmal fahre ich zurück auf die Hauptstraße. Dann verkleide ich mich. Wofür es klug war, ein paar von den alten Klassikern aufzubewahren. Schließlich will man unter keinen Umständen seinen geduldigen Bankberater verstören. Auch romantische Dates freuen sich über ein normales, gut sitzendes T-Shirt. Denn, Avantgarde hin oder her: Es kann schön sein, wenn einen das Gegenüber für "simply beautiful" hält. (Ela Angerer, RONDO exklusiv, 14.5.2018)

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