Nervenstarker Karjakin.

Berlin – Rückblick: Kandidatenturnier 2016, Moskau, Russland. Fabiano Caruana braucht einen Sieg in der letzten Runde. Er spielt mit Schwarz gegen Sergei Karjakin. Caruana packt einen scharfen Sizilianer aus, lässt den König in der Mitte. Die Stellung ist im Gleichgewicht – bis Karjakin auf d5 effektvoll einen Turm opfert. Der Russe legt den schwarzen König frei, geht zum Angriff über. Nerven scheint er nicht zu kennen. Als Caruana ihm in seiner Verzweiflung Remis bietet – ein Ergebnis, das Karjakin zum Turniersieg reicht – lehnt er ab, spielt den Mattangriff fertig. Karjakin gewinnt Partie und Turnier und spielt im Herbst 2016 gegen Magnus Carlsen in New York City ein WM-Match.

Kandidatenturnier 2018, Berlin, Deutschland. Fabiano Caruana braucht ein Remis. Er spielt mit Schwarz gegen Sergei Karjakin. Kein Sizilianisch heute, lieber das solide Russisch. Symmetrie und Figurentausch, das hat der Italo-Amerikaner vor. Beide rochieren lang, nach der Eröffnung ist die Stellung im Gleichgewicht – bis Karjakin mit seinem weißfeldrigen Läufer auf d5 schlägt, anstatt ihn gegen Caruanas Pendant auf g4 zu tauschen. Damit opfert der Russe eine Qualität, dafür lähmt er Caruanas Spiel. Schwarz findet keine aktiven Züge mehr, laviert herum, während Karjakin seine Stellung verstärkt. In Zeitnot muss Caruana den Verlust eines Bauerns auf g5 quittieren, er sieht keine Verteidigung mehr. Nerven scheint Karjakin nicht zu kennen. Er tauscht die Damen, schiebt die Freibauern vor, gewinnt das Endspiel.

Massenzieleinlauf

"Das Schlimmste, was passieren konnte", sagt ein frustrierter Caruana in der Pressekonferenz. Da parallel Shakhriyar Mamedyarov seine Partie mit Weiß gegen Ding Liren überzieht und verliert, hätte ein Remis für Caruana fast schon das Ticket zur WM bedeutet. Einen vollen Punkt wäre er zwei Runden vor Schluss vor dem Rest des Feldes gelegen, zwei weitere Remis hätten aller Wahrscheinlichkeit genügt. Jetzt hingegen sieht alles nach einem Massenzieleinlauf aus, bei dem Sergei Karjakin plötzlich die besten Karten hat. Bei Punktgleichheit am Schluss entscheidet zunächst die Bilanz im direkten Duell, dann die Anzahl der Siege. In der Zweitwertung zöge Karjakin nur gegen Mamedyarov den Kürzeren, in der Drittwertung hat er gegen alle die Nase vorn.

Insgesamt aber sind es jetzt ganze fünf Spieler, die sich absolut berechtigte Hoffnungen auf den Turniersieg machen dürfen. Karjakin und Caruana liegen punktegleich in Front, dahinter folgen Ding, Grischtschuk und Mamedyarov mit nur einem halben Punkt Rückstand. Wer wird riskieren? Wer auf Fehler der anderen lauern? Lewon Aronjan und Wladimir Kramnik, vor dem Turnier als Favoriten gehandelt, sind zwar aus dem Rennen, könnten aber Zünglein an der Waage spielen: Reißt Aronjan, der in Runde 12 endlich wieder ein Remis gegen Sascha Grischtschuk schafft, sich auch in Runde 13 gegen Caruana am Riemen, oder geht er ein weiteres Mal unter? Spielt Kramnik in den letzten beiden Runden gegen Ding und Mamedyarov weiter auf Teufel komm raus auf Gewinn und verschafft den beiden damit womöglich Chancen auf den Turniersieg?

Die Angst geht um

Eine Frage aber steht über allen anderen: Was macht Sergei Karjakin in diesen Kandidatenturnieren so stark? Der von der Krim stammende gebürtige Ukrainer, der inzwischen Putins bester Mann auf den 64 Feldern ist, reißt in Top-Turnieren ansonsten eher keine Bäume aus. Er ist schwer zu schlagen, trickreich, sammelt an Punkten ein, was die Gegner liegen lassen – das ja. Aber meistens reicht das nicht für den Turniersieg. Nur bei Kandidatenturnieren scheint Karjakin in seinem Element zu sein.

Schon 2014 in Chanty-Mansijsk hätte es fast geklappt. Auch da war der damals erst 24-Jährige mit zwei frühen Niederlagen ins Turnier gestartet, genau wie hier in Berlin. Am Ende war er ganz nah dran, den späteren Sieger Vishwanathan Anand noch abzufangen. Als die Moderatorin Karjakin nun in Berlin danach fragt, ob er nach seinem schlechten Start hier noch daran geglaubt habe, Chancen auf den Sieg zu haben, erinnert sich der Russe an 2014: "Damals bin ich auch mit –2 gestartet und habe am Ende auch +2 gemacht, also habe ich mir gedacht: Was ich einmal kann, kann ich auch zweimal." Hat er aber gar nicht! Karjakins Gedächtnis trügt ihn, mit drei Siegen erreichte er damals nur +1. Aber der Glaube (an sich selbst) kann, wie man sieht, Berge versetzen.

Die ganze außerrussische Schachwelt zittert nun jedenfalls schon vor einer Wiederholung des WM-Matches Carlsen vs. Karjakin. Noch einmal zwölf Partien Catenaccio? Wer weiß. Sollte Karjakin das Turnier gewinnen, hätte er es sich alleine schon für seinen unglaublichen Zwischenspurt von fünf Punkten aus den vergangenen sechs Partien verdient. Und dafür, dass er keine Nerven kennt.

Am Sonntag wird geruht, Montag und Dienstag folgen um 15h MEZ die finalen Runden 13 und 14. (Anatol Vitouch, 25.3.2018)