Peter und Katka beim "Klub der Künstler" in Bratislava.

Foto: Gerald Schubert

Vor dem Eingang zum Klub Umelcov, einem Künstlertreff in Bratislava, erzählt eine kleine Tafel von der Geschichte des Hauses: Im November 1989 formierte sich hier die Bürgerinitiative "Öffentlichkeit gegen Gewalt", Sammelbecken jener Slowaken, die in der damaligen Tschechoslowakei die Freiheit von der kommunistischen Diktatur erkämpften.

Gleich hinter dem funktionalistischen Backsteingebäude fließt die Donau vorbei, drinnen sind ein Künstlerverband und ein paar Lokale untergebracht. In einem davon sitzen Peter und seine Frau Katka, die in zwei Monaten ihr erstes Kind erwarten. Beide sind 27 Jahre jung, waren damals, als die Elterngeneration für Demokratie und Bürgerrechte auf die Straße ging, noch gar nicht auf der Welt.

Doch seit der Ermordung des Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová, ebenfalls beide erst 27, geht erneut eine Welle des Protests durch die Slowakei – angestoßen von Katka und Peter. Quasi über Nacht wurden die beiden zur Keimzelle einer Bürgerbewegung, die in einem schwer traumatisierten Land um Würde und Anstand ringt – und innerhalb weniger Wochen nichts weniger herbeigeführt hat als den Sturz der Regierung.

Anatomie eines Aufstands

Was genau geht da vor sich, wenn der Schock vieler Einzelner zum gemeinsamen Aufschrei Zigtausender gerinnt? Was geht in jungen Menschen vor, die einen Protestaufruf starten und plötzlich merken, dass sie die größten Demonstrationen seit 1989 ausgelöst haben? Und vor allem: Welche Vorstellungen haben sie davon, wie es nachher weitergehen kann im Land – und mit all der so rasch entfesselten Energie?

Wenn man Katka und Peter diese Fragen stellt, erzählen sie am liebsten der Reihe nach. Denn sie haben intuitiv gehandelt, ohne Theorie, ohne Vorbilder, zunächst sogar ohne Konzept. "Wir haben einfach gespürt, dass wir uns zu Wort melden müssen", sagt Katka. "Dass wir nicht einfach so tun können, als wäre nichts passiert."

Die Nachricht verbreitete sich am 26. Februar: Kuciak und Kušnírová waren erschossen in ihrem Haus in der Westslowakei aufgefunden worden. "Ich habe das im Radio gehört und sofort Peter angerufen", erinnert sich die Psychologin Katka, die in der Lehrerfortbildung arbeitet. Peter ist Projektmanager in einem Zeitungsverlag und kannte den ermordeten Journalisten flüchtig. "Wir wollten spontan eine Gedenkkundgebung organisieren", erzählt er. "Also habe ich ein Facebook-Event erstellt, das dann in kürzester Zeit viral ging. Innerhalb von ein paar Stunden hatten wir tausende Zusagen."

Organisiertes Verbrechen

Der Aufruf traf einen Nerv in der slowakischen Gesellschaft. Denn bald nach der Todesnachricht war bekannt geworden, woran Kuciak zuletzt gearbeitet hatte: Es waren Recherchen über ein Beziehungsgeflecht von Politikern und Geschäftsleuten, die der italienischen Mafia angehören sollen. Kuciak war einem korrupten System auf der Spur, das sich – so geht es aus seinen Aufzeichnungen hervor – unter anderem aus der manipulierten Vergabe von EU-Fördermitteln speiste.

Kurz nachdem der Aufruf zur Gedenkkundgebung online ging, bot auch Karolína ihre Hilfe an. Sie ist erst 19 – und die Einzige mit Erfahrung: Voriges Jahr hat sie einen großen Protestmarsch gegen Korruption organisiert. Am Ende sind es sieben junge Leute, die den Kern der Protestbewegung bilden. Deren Name und Motto: "Für eine anständige Slowakei".

Jede Nacht sitzen sie zusammen, feilen an Strategien, formulieren Forderungen: "Unabhängige Aufklärung der Morde und der Affären, über die Ján Kuciak geschrieben hat – und eine neue, vertrauenswürdige Regierung", fasst Katka zusammen. Doch wer wird entscheiden, wann die Ziele erreicht sind? Wie lange können, wie lange sollen die Proteste weitergehen? Niemand weiß es. Katka, Peter und die anderen sind keine Machtstrategen. Lieber hinterfragen sie sich selbst – und die enorme Dynamik, die entstanden ist. Dutzende Demonstrationen hat es seit der ersten Kundgebung im ganzen Land gegeben. Am Freitag vor einer Woche gingen allein in Bratislava 65.000 Menschen auf die Straße. Der Innenminister trat zurück, dann Premier Robert Fico mitsamt seiner ganzen Regierung. Nur die alte Dreiparteienkoalition ist vorerst am Ruder geblieben.

Die Stimme der Jägerlobby

Angst vor der eigenen Courage? "Wir fühlen eine große Verantwortung", sagt Katka. Doch es ist nicht immer leicht. Schon melden sich Lobbygruppen, um vorsorglich Terrain abzustecken. "Absurd" nennt Katka das: "Neulich hat uns ein Jägerverband angesprochen, der irgendwelche Gesetze ändern möchte." Und natürlich hagelt es Kritik aus den Reihen der Regierungsparteien und ihrer Anhänger. Manche beschimpfen die jungen Leute als vom Ausland ge steuerte Agenten – wenig über raschend finanziert von George Soros, dem mythisch überhöhten Sündenbock des illiberalen Europas. Doch die Protestierenden auf den Straßen machen sich darüber bloß lustig. "Ich bin Tono S.", stellt sich ein Rapper auf dem Podium vor: "Bezahlt von Soro S.!"

"Es ist uns gelungen, den Zorn vieler Menschen in etwas Kons truktives zu verwandeln, in eine positive Kraft", sagt Katka. Das ist für sie das Wichtigste. Wichtiger als etwa die Frage, ob oder wann es Neuwahlen gibt. Schließlich wollen sie und Peter ja keine Revolution wie die Demonstranten vor 30 Jahren. Sie hoffen nur, dass die Bürgergesellschaft irgendwie ihre neu gefundene Stimme behält – "für eine anständige Slowakei". (Gerald Schubert, 24.3.2018)