Der letzte Erbe der klassischen russischen Schachschule: Wladimir Kramnik.

Berlin – Das war knapp. Gerade noch zieht Fabiano Caruana in einer hochspannenden zehnten Runde des Berliner Kandidatenturniers den Kopf aus der Schlinge, die Shakhriyar Mamedyarov ihm um den Hals gelegt hat. Der Italo-Amerikaner gerät nach einer katalanischen Neuerung Mamedyarovs im 12. Zug rasch zwei Bauern in Rückstand. Allerdings hat Caruana berechnet, abgeschätzt oder wenigstens gehofft, dass die völlig zerrüttete weiße Bauernstruktur ihm im Verbund mit dem Entwicklungsrückstand seines Gegners genug Kompensation dafür verspricht.

Quod erat demonstrandum

Das ist, nach einer Ungenauigkeit Caruanas, dann aber doch nicht ganz der Fall. Mamedyarov ist zeitweise ganz nah dran an einem vollen Punkt, der das Turnier am Ende zu seinen Gunsten entscheiden könnte. Aber wie sagte Fabiano Caruana schon nach seiner Siebtrundenpartie gegen Lewon Aronjan so schön, als dieser gegen ihn zwei Bauern für eher fragliche Kompensation ins Geschäft gesteckt hatte: "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich im Schach sogar sehr viel schlechtere Stellungen verteidigen lassen."

Gegen Mamedyarov hat Caruana nun eine solche schlechte Stellung am Brett und somit Gelegenheit, die Richtigkeit seiner Aussage in der schachlichen Praxis zu beweisen. Obwohl nicht einmal Sergej Karjakin in diesem Endspiel gerne die schwarzen Steine führen würde und obwohl Mamedyarov bei seinen Gewinnversuchen alles richtig zu machen scheint, stehen am Ende nur noch zwei nackte Könige auf dem Brett, die einander im Schach bekanntlich niemals wehtun können.

Die Verwandlung

Es ist eine bekannte Empfehlung der russischen Schachschule, nach einer Niederlage erst einmal ein solides Remis einzuschieben, um wieder Tritt zu fassen und Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Was man nach zwei Niederlagen en suite machen soll, ist nicht überliefert. Was aber zu tun ist, wenn man einst als einer der solidesten Spieler der Welt galt und nun bei einem Kandidatenturnier nach neun Runden vier Niederlagen, zwei Siege und nur drei Remis zu Buche stehen hat, darauf gibt Wladimir Kramnik als letzter Erbe der klassischen russischen Schachschule an diesem Donnerstag eine klare Antwort: Man spielt auf Sieg, dass die Schwarte kracht!

"Ich war etwas müde und wollte heute eine normale, ruhige Position spielen", sagt Kramnik nach seiner nächsten Opferorgie gegen einen indisponiert wirkenden Lewon Aronjan. So ganz ist das dem Ex-Weltmeister nicht mehr zu glauben. Zu eindeutig die Turmbatterie, die Kramnik im frühen Mittelspiel auf der f-Linie baut und die nur einen Zweck haben kann: per Qualitätsopfer eine klaffende Wunde in Aronjans Königsstellung zu schlagen und dann rasch den Rest der Truppe zum Salzstreuen nachzuschicken.

Noch einmal gilt es, sich zu vergegenwärtigen, wer dieser Wladimir Kramnik eigentlich ist, der im Kühlhaus unentwegt Leuchtfeuer des Opferschachs gegen die weltbesten Spieler entzündet, als wäre er ein Hexenmeister aus Riga mit Namen Mischa Tal. Mit der Wiederbelebung der bis heute als "Berliner Mauer" gefürchteten Berliner Verteidigung hatte Kramnik vor nunmehr achtzehn Jahren eine Blütezeit des jede Initiative im Keim erstickenden Defensivschachs begründet. Eine zunehmend steigende Remisquote sowie viele aus Zuschauerperspektive wenig erbauliche Partien auf Topniveau waren das Ergebnis des oft kopierten Kramnik'schen Ansatzes gewesen, mit Schwarz anstatt auf Gegenchancen auf eine völlige Austrocknung des Spiels zu setzen.

Musismus

Vor diesem Hintergrund wirkt es so, als hätten die Musen des Spiels Kramnik nun im Herbst seiner Karriere beiseitegenommen, um ihm mit einigem Nachdruck zu verstehen zu geben, welche ludische Schuld er in den Jahren seiner Regentschaft als Weltmeister angehäuft hat. Und die zahlt er jetzt, vor den Augen der begeistert bis perplex dreinblickenden Schachwelt, Partie für Partie ab.

Gegen Lewon Aronjan mag ihm das in diesem Turnier allerdings weitaus mehr Freude bereiten als in den meisten anderen Partien. Denn gegen den Armenier geht hier in Berlin buchstäblich alles. Aronjan ist seinerseits vom Kandidatenfluch befallen, der ihn schon mehrere WM-Zyklen lang verfolgt und dafür sorgt, dass er regelmäßig zwei Klassen unter seinem Niveau agiert, sobald es um die Qualifikation für ein Match um die Weltmeisterschaft geht. Nachdem Kramnik ihn schon in der Hinrunde in einer denkwürdigen Angriffspartie mit Schwarz ausgeknockt hat, muss er das Ganze in Runde zehn mit vertauschten Farben noch einmal über sich ergehen lassen. Am Ende übersieht Aronjan ein dreizügiges Matt und gibt Kramnik damit Gelegenheit, per spektakulärem Damenopfer nicht nur im Turnier, sondern auch bei den Musen ein wenig Boden gutzumachen.

Die anderen Partien enden auf recht ruhigen Pfaden remis. Vier Runden vor Ultimo führt Fabiano Caruana daher mit 6,5 aus 10 vor Shakhriyar Mamedyarov mit 6 und Alexander Grischtschuk mit 5,5 Punkten. In Runde elf wird Caruana Wladimir Kramnik gegenübersitzen und dabei die weißen Steine führen. Mögen die Musen mit ihm sein. (Anatol Vitouch, 23.3.2018)