STANDARD: Ausgeschlafen?

Mitterer: Ja. Warum?

STANDARD: Weil Sie die Nächte durchschreiben.

Mitterer: Immer.

STANDARD: Sie wurden im Februar 70. Verändert sich der Arbeitsrhythmus da nicht?

Mitterer: Ich bin in der Früh zu nichts zu gebrauchen. Manchmal schreib ich bis drei, manchmal bis sechs. Dann wird’s hell und man kann rausgehen, das ist fein.

STANDARD: Wann stehen Sie auf?

Mitterer: Zu Mittag halt.

Den Schluss seiner Stücke schreibt er gern so, dass das Publikum "nicht völlig erschlagen rausgeht". Den Leuten das Leben leichter machen, das könne er trotzdem nicht, sagt Autor Felix Mitterer.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Ich will über Heimat, Volk und Schreiben mit Ihnen reden. Sie sagen, Sie leiden unter Prokrastination, dem Drang, alles bis zuletzt aufzuschieben. Leiden nicht eher die anderen, wenn Sie Ihre Texte spät abgeben?

Mitterer: Die anderen haben viel drunter gelitten und das tut mir auch sehr leid. Aber ich schreibe jetzt immer weniger und daher geht sich alles besser aus. Das ist schon angenehm.

STANDARD: Genug geschrieben?

Mitterer: Ja, aber die Masse macht’s nicht, angeben muss man damit nicht. Manche sterben mit 24, haben drei Stücke geschrieben und die bleiben für immer.

STANDARD: Die Präkrastination gibt es ja auch ...

Mitterer: Die gibt es auch?

STANDARD: Ja, das sind die Immer-alles-gleich-Erlediger.

Mitterer: Da gibt man Texte zu früh ab? (lacht) Bin ich nicht.

STANDARD: Ich bin beim Geschichten-Abgeben eher Prokrastinikerin, privat erledige ich das meiste gleich. In der Hoffnung, einmal alles auf der Reihe zu haben.

Mitterer: Man hat nie alles auf der Reihe.

STANDARD: Sie sind als Kind einer Tiroler Landarbeiterin geboren, die Sie ihrer Freundin und deren Mann, ebenfalls arme Landarbeiter, überließ. Heute gelten Sie als einer der erfolgreichsten österreichischen Autoren, haben 51 Theaterstücke, um die 30 Drehbücher von Piefke-Saga bis Tatort, sechs Bücher und sonst noch einiges geschrieben. Sind Sie stolz darauf?

Mitterer: Ich bin nicht stolz. Aber ich freu mich, dass man von mir immer wieder etwas geschrieben haben wollte. Das ist alles.

STANDARD: Man bezeichnet Sie als Volksautor. Ist das einer, der aus dem Volk kommt oder einer, der fürs Volk schreibt?

Mitterer: Diese Bezeichnung wurde mir gegeben, aber sie stört mich nicht. Ich schreib ja tatsächlich nicht nur für eine intellektuelle Minderheit, und ich habe immer für die Volksbühnen in Tirol geschrieben. In meiner Kindheit habe ich echtes Volkstheater gesehen: Theater, wo die Leute aus dem Dorf, wie auch meine Adoptivmutter, für die Leute aus dem Dorf spielen, dieselbe Sprache sprechen wie das Publikum unten. Und dann gibt es noch den ganzen Schrecken vom Volk, vor allem die Nazis haben die Begriffe Volk und Volkstheater missbraucht und das wirkt noch nach. Mich hat das aber nicht gekümmert, weil ich einfach meine Arbeit gemacht habe. Wer ist das Volk? Sind wir doch alle.

STANDARD: Mit dem Begriff "Heimat" ist es auch sehr schwierig ...

Mitterer: Ich mag das Wort "daheim". Das Wort Heimat wurde sehr missbräuchlich verwendet und das geschieht jetzt wieder. Ich lasse mir den Begriff von denen, die das tun, aber nicht nehmen, weil es Heimat ja tatsächlich gibt.

STANDARD: Was ist Heimat für Sie?

Mitterer: Das ist nichts Großes. Heimat ist dort, wo man geboren wurde und aufgewachsen ist. Heimat ist das, was einen geprägt hat. Die Heimat schützen, indem man Menschen aussperrt, das ist nicht mein Begriff von Heimat.

STANDARD: In "Mein Lebenslauf" erzählen Sie auf 500 Seiten von rund 500 Wegbegleitern.

Mitterer: Und ich hätte noch viel mehr erwähnen müssen. Man kann mit ein paar Zeilen viel, viel mehr sagen als mit ein paar hundert Seiten. Ich habe unlängst ein Heftlein von wenigen Seiten gelesen, vom Osttiroler Hans Salcher. Der saß in einem Mauthäuslein und schrieb "Briefe eines Mautners" und einen kurzen Text über seinen Vater: unglaublich, unfassbar schön und bedeutsam. Ich hab schon immer die Lyrik geliebt, sie erschien mir viel bedeutsamer – aber ich kann Lyrik einfach nicht schreiben. Ich bedaure, dass Lyriker bei uns heute keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen und sich sonstwie ernähren müssen. In Griechenland oder Lateinamerika konnte man Fußballstadien füllen, wenn Dichter Epen, Balladen oder Gedichte lasen. Die Leute dort lieben das. Das hat’s bei uns kaum jemals gegeben.

In einem Häuslein wie diesem, dem Mauthaus "Guttal" an der alten Großglockner Hochalpenstraße, schrieb einer, den Mitterer bewundert: Hans Salcher.
Foto: großglockner.at

STANDARD: Weil wir zu pragmatisch sind?

Mitterer: Vielleicht ist es eine Temperamentssache. Vielleicht liegt es daran, dass die Zuhörer in Griechenland oder Lateinamerika Lyrik begreifen wie etwas, was Musik ist. Mikis Theodorakis (griechischer Komponist, Schriftsteller und Politiker; Anm.) hat ja auch Stadien gefüllt, selbstverständlich weil er eine politische Botschaft hatte, aber auch, weil seine Musik so beeindruckend war. Es gibt Völker, die der Dichtung mehr zugeneigt sind als andere. Kann sein, dass es mit der deutschen Sprache zu tun hat, damit, dass die Deutschsprachigen das Pathos scheuten, bis Hitler kam. Dann war das Pathos großmächtig und die Leute waren bis ins Tiefstinnerste ergriffen.

STANDARD: Waren Sie je bei so einem Massenevent dabei?

Mitterer: Ja, ich war einmal bei so einem Konzert in Griechenland und heute, mit Abstand, weiß ich: Das war auch ganz schön pathetisch. Ist man aber mittendrin, ist es ganz groß. Also, das Pathos gibt es auf der anderen Seite auch. Ich habe einmal eine Rede, die Recip Erdogan vor in Deutschland lebenden Leuten hielt, auf Deutsch übersetzt gelesen und ich war komplett verblüfft, wie poetisch die Sprache dieses Menschen ist. Er hat unglaubliche Wendungen und Metaphern gebraucht. Südländer und Orientalen, haben einfach einen anderen Zugang zur Sprache, der es ermöglicht, dass ein Dichter 50.000 Leute in ein Fußballstadion bringt.

STANDARD: Sie haben ja nie Gedichte geschrieben? Warum nicht?

Mitterer: Ich wurde gedrängt dazu, es ist mir aber überhaupt nicht gelungen. Ich kann das nicht. Manche Leute haben die Begabung dazu, ich habe halt die Begabung, Dialoge für Schauspieler zu schreiben. Das weiß ich, weil die mir sagen, sie können das, was ich geschrieben habe, gut sprechen. Das ist aber kein Werturteil, weil ich weiß, dass es andere Formen des Schreibens gibt, wo Sprache künstlich ist. Das hat möglicherweise mehr mit Dichtung zu tun, als das, was ich schreibe – aber ich gehe halt meinen Weg.

STANDARD: Apropos Ihr Weg: Ihre TV-Serie Piefke-Saga, die in "Lahnenberg" spielt und in Mayrhofen gedreht wurde, wurde Kult. Sie zogen den Tiroler Tourismus durch den Kakao und wurden dafür beschimpft. Als man Ihnen später einen Tiroler Preis verleihen wollte, lehnten Sie den ab. So gekränkt?

Mitterer: Beleidigt, weil sie mir in Tirol vorgeworfen hatten, ich schädige mit der Piefke-Saga den Tourismus. Dabei haben die deutschen Zuseher damals schon bei der Tirolwerbung gefragt: "Wo bitte ist Lahnenberg? Das ist so schön, da wollen wir hin." Nach der ersten Aufregung haben mir die Touristiker dann eh gedankt für die Werbung. Dass ich die Auszeichnung nicht gleich angenommen hab, beschämte mich, als ich draufkam, dass mich ein Wohlmeinender damit wirklich ehren wollte. Jahre später fragte er: "Nimmst es jetzt?", und ich sagte: "Ja, jetzt nehm ich’s" und entschuldigte mich. So ist das im Leben: Man braucht nicht die beleidigte Leberwurst sein. Die Dinge ändern sich.

Vater und Tochter Sattmann (Mitte und rechts) in der dritten Folge der Piefke-Saga, in der Sattmanns in Lahnenberg Arbeitsplätze schaffen. Der NDR (von dem das Foto stammt) strahlte die Kultserie 2007 erneut aus. Mitterer schrieb das Drehbuch, wurde zunächst dafür geschmäht später geehrt.
Foto: NDR

STANDARD: Der Titel Piefke-Saga stammt von einem deutschen Fernsehmann, Sie selbst hätten die Serie "Sattmanns Reise" genannt.

Mitterer: Mein Gott, war mir das peinlich. Wenn mich wer wegen des Titels beschimpft hat, hab ich gleich gesagt: "Ist nicht von mir, ist nicht von mir." War aber der perfekte Titel.

STANDARD: 1995 bis 2010 lebten Sie in Irland. Das wurde Ihnen nicht Heimat. Der Sprache wegen?

Mitterer: Nein, es war zu spät für mich, um dort richtig hineinzuwachsen. Aber es war unglaublich: Ich habe am irischen Land das Tirol meiner Kindheit wiedergefunden – ohne Berge, aber doch mit Hügeln. Ein unglaubliches Geschenk. Die Leute im Dorf haben zusammengelebt, zusammengehalten, etwas gemeinsam unternommen und waren am Abend im Pub. Da haben sie musiziert, Gstanzln gesungen, Balladen vorgetragen, es war wie in meiner Kindheit in Tirol. Und jeder Ort spielte Theater. Irland hat mich erstaunt, weil es so unverletzt war. Bis zum großen Crash.

STANDARD: Davor, im großen Bauboom, haben Sie sich gegen die Verbauung Ihres Dorfs engagiert.

Mitterer: Das war die Idee meiner Tochter, ich habe zunächst befürchtet, wir würden uns Feinde machen. Das geschah aber nicht. In der Krise ist dann sowieso alles zusammengekracht, es war bitter. Aber auch wenn jemand ganz arm war in Irland: Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen zu jammern.

STANDARD: Sie selbst wuchsen in bitterer Armut auf. War das Thema damals?

Mitterer: Nein. Wobei meine Adoptivmutter ein sozialdemokratisches politisches Bewusstsein hatte, das ab und zu aufbrach, der Vater nicht. Er hat seinen Status vollkommen akzeptiert, war 70 Jahre bei der Blasmusikkapelle und da glücklich und anerkannt.

STANDARD: Haben Sie mit Ihren Texten über Außenseiter und gesellschaftliche Randfiguren Ihre Kindheit und Jugend bewältigt?

Mitterer: Nein, ich schöpfe daraus. Ohne meine Erfahrungen wäre ich nicht zum Schreiben gekommen. Ich konnte erst schreiben, als ich Ende der 60er-Jahre wieder zu meiner Adoptivmutter, die oft furchtbar war, heimging und lernte, was sie alles mitgemacht hatte.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt: "Bürgerkinder haben es schwerer." Weil die weniger existenzielle Probleme haben?

Mitterer: Nein, gar nicht, es gibt nirgendwo weniger Probleme. Aber deren Familien haben oft höhere Ansprüche an die Kinder. Meinen Eltern war es schlicht egal, dass ich in der Schule schlecht war, ihnen ging es nur darum, dass ich mein Geld ehrlich verdiene. Mir war nichts vorgezeichnet – so gesehen war ich freier. Meine Mutter war dann auch angetan, von dem, was ich tat, einmal hat sie sogar in einem meiner Stücke gespielt, die böse Pfarrhäuserin in "Kein schöner Land". Sie hat das mit großem Vergnügen gespielt, wir waren beide stolz. Dann ist sie bald gestorben.

STANDARD: Sie spielten in Ihren Stücken auch selbst mit, etwa den Behinderten in "Kein Platz für Idioten" oder den Affen in Kafkas "Ein Bericht an eine Akademie". Da singen Sie sogar.

Mitterer: Was ich, wie das Spielen, auch nicht kann (lacht). Drum hab ich mich gern versteckt, hinter der Affenmaske oder dem Behinderten. Am liebsten hätte ich ja den Quasimodo gespielt. Eine unglaubliche Gestalt: Taubstumm und verwachsen verliebt er sich in die Schöne, versteht alles miss und am Ende legt er sich zum toten Körper der von ihm Geliebten und stirbt einfach. Eine dieser großartigen, unsterblichen Geschichten. Aber ich habe den "Glöckner von Notre-Dame" jetzt für die Schlossbergspiele Rattenberg geschrieben.

Quasimodo, den "Glöckner von Notre- Dame", hier 1956 von Anthony Quinn gespielt, wäre Mitterers Lieblingsrolle. Außenseiter der Gesellschaft spielen in seinen Werken die Hauptrolle.
Foto: Imago/United Archives

STANDARD: Und Sie spielen den Quasimodo?

Mitterer: Nein. Kann ich nicht. Da muss man sich doch auf dem Seil von der Kathedrale Notre Dame hinunterschwingen auf den Platz mit dem Galgen.

STANDARD: Das hätten Sie doch locker geschafft.

Mitterer: Nein. Ich bin schon froh, wenn ich’s als Kafkas Aff aus dem Käfig derhupf.

STANDARD: 1976, in Ihrem ersten Film "Schießen", haben Sie sich selbst gespielt. Sie hassen es aber, sich selbst zu sehen?

Mitterer: Es war mir damals schon sehr peinlich, mich selbst zu sehen. Hab mich ganz furchtbar gefunden. Schlechter Schauspieler.

STANDARD: Der Film wurde in Ihrem Innsbrucker Büro gedreht, wo Sie von 1966 bis 1976 als Zöllner arbeiteten. Sie trugen damals lange Haare, schrieben in der Nacht, kamen in einer Sergeant-Pepper-Uniformjacke und manchmal barfuß ins Büro. Ihre Form der Revolution?

Mitterer: Ich wollte mich unbedingt von den anderen unterscheiden. Zöllner: Es war für mich so schrecklich, so einer zu sein, aber die Kollegen waren unglaublich tolerant. Einer hat dann meine Arbeit am Vormittag übernommen, und ich habe seine ab 14 Uhr für ihn erledigt. Der hat mich gehasst, weil ich immer so spät kam, aber nach dieser Abmachung war alles gut. Letztlich wechselte ich in die Telefonzentrale. Da hab ich dann wirklich schreiben können, weil da war nichts los.

STANDARD: Und Sie waren ein 68er?

Mitterer: Ja, ich war ein 68er. Auf meine kleine, einsame Weise. War aber wichtig. 1968 war ein Aufbruch und die Zeit des Aufwachens, die auch mich politisiert und zum Schreiben geführt hat. Obwohl ich nie in meinem Leben bei einer Demonstration war, weil ich mich vor Menschenmengen gefürchtet habe und mich nicht zugehörig fühlte. Ich war ja beim Zoll und kein Student. Aber: All das hat mich zu meinem Schreiben hingeführt.

STANDARD: Man sagt, Sie täten sich schwer beim Schluss von Texten. Weil’s dabei um Abschied geht?

Mitterer: Nein, der Anfang ist entsetzlich, für jeden Autor. Ich weiß das Ende öfter als den Anfang.

Die Tiger Lillies (im Bild Martyn Jacques) hat Mitterer in London besucht, um sie zu fragen, ob sie nicht in seinem Mozart musizieren wollen. Sie wollten und traten 2006 in Wien in den "Weberischen" auf.
Foto: APA/Gindl

STANDARD: 2006 wurde Ihr Musikstück über Mozart uraufgeführt, "Die Weberischen". Die Musik haben die Tiger Lillies gemacht. Die wollten das Stück mit dem Lied "All is nothing" beenden, das ließen Sie nicht zu. War Ihnen zu traurig?

Mitterer: Sie wollten ausdrücken, dass alles, was man als Künstler kreativ schafft, letztlich nichts bedeutet. Ich habe dann gesagt: So, und jetzt hängen wir noch die ersten Takte von Mozarts Klarinettenkonzert dazu. Weil dann hebst du ab in den Himmel. Und so war es auch. Nach diesen Takten weiß man: Alles Weltliche heißt nicht viel. Aber diese Musik bleibt uns.

STANDARD: Ihr "Wiener Schluss"? Den schrieb Joseph II. fürs Hoftheater vor: Romeo&Julia oder Hamlet mussten gut ausgehen, damit der Adel nicht traurig heimgeht.

Mitterer: Bei mir gehen die Geschichten oft gar nicht gut aus – aber ich versuche, ein tröstliches Ende zu finden, damit das Publikum nicht völlig erschlagen rausgeht. Etwas finden, was es ein bisschen leichter macht. Im "Fall Jägerstetter" wird der Wehrdienstverweigerer von den Nazis umgebracht, aber am Ende treffen er und seine Frau noch einmal zusammen, obwohl beide tot sind.

Felix Mitterer im Wiener Theater an der Josefstadt. Dort zeigt man anlässlich seines 70ers seine neu inszenierte Theatersatire "In der Löwengrube".
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie wollen den Leuten das Leben erträglicher machen?

Mitterer: Kann ich ja nicht.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht’s im Leben?

Mitterer: Gut durchzukommen, zu machen, was einem am Herzen liegt. Man soll nicht darauf beharren, unglücklich zu sein und soll den anderen nicht wehtun. Ja. Was soll ich sagen?