Holger Czukay (1938-20217) Anfang der 1980er-Jahre. Damals entstanden zeitlos-schöne Soloarbeiten wie "Der Osten ist rot".

Foto: Conny Plank/Grönland

Wien – Neben Kraftwerk, Neu! oder Tangerine Dream, und zuletzt um das Jahr 1980 den Einstürzenden Neubauten und der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft werden Can zu den zentralen, innovativen und einflussreichen deutschen Bands auf dem Planeten Pop gezählt. Der Rest ist oft auch gut, kommt aber nicht in die Suppe.

Vor allem mit Can war der 1938 in Danzig geborene Holger Czukay (bürgerlich: Holger Schüring) ab Ende der 1960er-Jahre vorne mit dabei, wenn es darum ging, die testosterongesättigte Rockmusik vom Schwanzus-longus-Syndrom zu befreien. Deren Regelsystem wurde konsequent unterwandert. Heraus kamen dabei während stundenlanger freier Improvisationen im eigenen Inner Space Studio bei Köln entstandene, meist ebenso frei fließende Stücke, die die späteren repetitiven Eigenschaften elektronischer Musiken wie Techno oder Trip-Hop vorwegnahmen.

groenlandrecords

Auf der hypnotisch groovenden Rhythmusgruppe Holger Czukay (Bass) und Jaki Liebezeit (Schlagzeug), deren Arbeit einer für Drogen offenen Kopfnicker-Hörerschaft durchaus entgegenkam, wurden die musikalischen Extras von Keyboarder Irmin Schmidt, dem für einen Rockgitarristen sensationell bescheidenen Michael Karoli sowie chemisch gut eingestellt klingenden Irren wie Malcolm Mooney und Damo Suzuki am Gesangsmikro geliefert.

Klassische Alben, allen voran Delay, Monster Movie, Tago Mago und Ege Bamyasi, entstanden vor allem auch dank Holger Czukays monatelanger Feinarbeit am Mischpult und der Tonbandmaschine. Einige Jahre vor der Samplingtechnologie und der Möglichkeit, Loops zu programmieren, brachte Czukay die Stücke mit Schere und Klebeband in Fasson. Hauptaugenmerk dabei: Reduktion, Repetition und ein lässiger Flow. Dieser Musik war damals nur bescheidener kommerzieller Erfolg gegeben. Sie beeinflusste aber speziell im angloamerikanischen Raum junge Fans wie The Fall oder die Happy Mondays

Der Osten ist rot

Stücke wie Yoo Doo Right konnten dann auch schon einmal eine ganze Plattenseite dauern, ohne als langweilige Blähung aus der Hochzeit des damals parallel umgehenden Progressive Rock des universitären Umfelds daherzukommen. Vor allem auch dank eines Gespürs für präzises Timing, das Czukay besaß, brachte er die Kenntnisse seines Studiums an der Musikhochschule Köln und seiner mehrjährigen Tätigkeit als Assistent und Tonmeister des deutschen Tonband-, Elektronik-Pioniers und Avantgarde-Schwergewichts Karlheinz Stockhausen (Gesang der Jünglinge, Kurzwellen, Hymnen, Licht ...) sozusagen in die popkulturelle Praxis ein.

Parallel zu der Arbeit mit Can entstanden bis zu seinem Tod, speziell dann ab dem Band-Ende in den 1980er-Jahren, auch vermehrt Soloarbeiten, die Czukay aus hunderten Tonbandschnipseln zusammenbastelte.

Die jetzt eigentlich anlässlich seines 80. Geburtstags am 24. März geplante Veröffentlichung seiner Solojahre kann Czukay nicht mehr erleben. Er starb am 5. 9. 2017 im ehemaligen Can-Studio in Weilerswist bei Köln, einem ehemaligen Kino, das er auch als Wohnung nutzte.

Cinema bietet als opulente sechsteilige CD-Box nicht nur mehr oder weniger vollständige Soloarbeiten Czukays wie das erste Soloalbum Movies von 1979, den Klassiker On The Way To The Peak Of Normal oder Der Osten ist rot von 1984. Sie beinhaltet auch Unveröffentlichtes wie die Jazznummer Konfigurationen von 1960, heimlich 1969 im Stockhausen-Studio unter dem Projektnamen Canaxis 5 aufgenommene Raritäten, Stücke des gemeinsam mit Produzentenlegende Conny Plank betriebenen Spaghettiwestern-Dub-Duos Les Vampyrettes, mit Brian Eno oder Kollaborationen mit dem mächtigen Reggae-Bassisten Jah Wobble, Tonbandzuspielungen slawischer Folklore und chinesischer Radiodudelmusik inklusive. Eine DVD des seltenen Spielfilms Krieg der Töne mit Czukay in der Hauptrolle liegt bei. Zeitlos irre. Groovig. Schön. (Christian Schachinger, 21.3.2018)