Viel war in den vergangenen Tagen die Rede vom sicheren Sieg des Amtsinhabers Wladimir Putin bei der Präsidentschaftswahl in Russland. Viel wurde geschrieben über die Bedeutung der konfrontativen Außenpolitik Moskaus für den Machterhalt im Inneren, über die Statistenrolle von Putins Gegenkandidaten, und darüber, warum Ärger über Korruption und Misswirtschaft am Staatsoberhaupt einfach abzuperlen scheinen.

Wie aber ticken die Wählerinnen und Wähler, Akteure und Getriebene der Entwicklungen im größten Land Erde? ORF-Korrespondentin Carola Schneider vermittelt in ihrem Buch "Mein Russland – Begegnungen in einem widersprüchlichen Land" zumindest eine ungefähre Ahnung von der Vielfalt der Erfahrungshorizonte, Lebensentwürfe und Meinungsbilder der Menschen.

Abseits der Klischees

Bei 140 Millionen Einwohnern, deren Lebensraum sich über elf Zeitzonen erstreckt, lassen sich bestenfalls punktuelle Sondierungen vornehmen. Das Bild, das daraus entsteht, kann natürlich niemals Abbild sein – und natürlich weiß das auch die Autorin. Umso vorsichtiger bemüht sie sich um einen Querschnitt, der Stereotypen aufweicht, überraschende Biografien ans Licht bringt und sich mit seiner Alltagsnähe von den langweiligen Klischeefabriken der Informationskrieger gekonnt abgrenzt.

Wer etwa mit einem Ehepaar spricht, das in einem sibirischen Dorf Käse produziert, wird thematisch zwar bald bei Sanktionen und Gegensanktionen landen, und damit beim russischen Embargo gegen europäische Lebensmittelimporte. Doch der Alltag des Paares, aufgespannt zwischen schwächelnder Kaufkraft der Kunden und der dennoch gestiegenen Nachfrage nach Camembert-Ersatz, produziert eben keine plumpen Schwarzweißbilder, wie sie in vielen Debatten über das aktuelle Verhältnis Russlands zum Westen so gerne verwendet werden.

"Fußball-Niemandsland"

Stolz und Unzufriedenheit, russischer Patriotismus und Träume vom Westen, das Beschreiten neuer Wege und das Durchwursteln in alten Strukturen: All das bringt Carola Schneider in ihrem Buch zum Vorschein. Putinverehrer kommen dabei ebenso zu Wort wie Oppositionelle oder junge Unternehmer, die einfach nur eine Nische für ein gutes Leben finden wollen. Wie sich die Betreiber einer hippen Bäckerei in Moskau auch heute noch mit den Regeln für "Unternehmen öffentlicher Ausspeisung" herumschlagen müssen und immer wieder am intransparenten Vorgehen der Verbraucherschutzbehörde zu scheitern drohen, dürfte auch diejenigen interessieren, die ansonsten ausführliche Analysen über die Strukturen der russischen Wirtschaft zu ihren Lektüregewohnheiten zählen.

Das Porträt eines jungen Putinpropagandisten vom kremlnahen Jugendnetzwerk "Set", dessen Finanzquellen im Dunklen bleiben, stellt Schneider neben das eines regierungskritischen Journalisten, der mit seinem Fernsehsender gerade eine neue Bleibe suchen muss. Grund: Der Mietvertrag ist kurzfristig gekündigt worden – angeblich aus politischen Gründen, aber wirklich beweisen kann auch das niemand. Und auf der Krim spricht die Autorin mit einem Fußballtrainer, der Putin gut findet, aber auch über die Ukrainer nicht herziehen will. Was ihn wirklich stört: Die Krim sei zum "Fußball-Niemandsland" geworden, weil sich derzeit weder die ukrainische noch die russische Liga hier zuständig fühlen würde.

Wiederholte Besuche

Der flüssige Schreibstil, in dem das Buch gehalten ist, erinnert nicht von ungefähr an den Reportageton einer TV-Journalistin. Und doch handelt es sich um kein leicht angefertigtes Nebenprodukt der täglichen Fernseharbeit. Für ihr Buch hat Carola Schneider ihre Gesprächspartner erneut aufgesucht. Einige hat sie sogar mehrmals getroffen und über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet, erzählt sie dem STANDARD. "Ich mag das Land", fügt sie hinzu.

Hätte sie nicht extra erwähnen müssen. Man kann es auf jeder Seite lesen. Abgesehen davon, dass sie dieses Buch andernfalls auch gar nicht hätte schreiben können. (Gerald Schubert, 18.3.2018)