Berlin – "Klassisches Schach ist immer noch sehr interessant", hatte Wladimir Kramnik bei der Eröffnungspressekonferenz auf die Frage geantwortet, ob er Chess960 (auch Fischer-Schach genannt) für eine mögliche Zukunft des Spiels halte. Betrachtet man die Partien im Kühlhaus Berlin, dann kann man dem Ex-Weltmeister nur beipflichten. Eröffnungs-Langeweile und abgeklammerte Remisen waren gestern. In Berlin wird mit beiden Farben um den vollen Punkt gekämpft. Kaum ein Teilnehmer meidet Stellungen, in denen alle drei Resultate möglich sind.

"Sohn des Leids"

Besonders tut sich in dieser Hinsicht Alexander Grischtschuk hervor, der auch in Runde sechs gegen Fabiano Caruana wieder Vollgas gibt und in seiner zweiten Schwarzpartie in Folge zum zweiten Mal eine Benoni-Struktur riskiert. "Benoni heißt übersetzt bekanntlich ‚Sohn des Leids‘ – und ich mag alles, was mit Leid zu tun hat", sagt Grischtschuk nach der Partie mit seinem typisch düsteren Humor. Er hat die Lacher wieder einmal auf seiner Seite, obwohl er selbst keine Miene verzieht. "Die Stellungen machen mir Spaß. Sogar gestern, als meine Position völlig kaputt war, hat es mir Spaß gemacht, sie zu spielen."

Besonderen Spaß macht es Grischtschuk, seine Bedenkzeit nach maximal 25 Zügen zur Neige gehen zu lassen. Dann glauben die Gegner gerne, jetzt müsste doch was gehen, und plötzlich sind statt Grischtschuk sie selber unter Druck. Trotz seines Hochrisikoansatzes hat der Russe bisher erst eine einzige Partie verloren, das war in Runde eins gegen Landsmann Wladimir Kramnik.

Auch an diesem Freitag gegen Fabiano Caruana hält Grischtschuk seinen Benoni-Schuppen wieder gekonnt zusammen. Dabei setzt Caruana ihm einen Aufbau vor, den Grischtschuk einst selber popularisierte und daher nun gegen seine eigenen Waffen kämpfen muss. Das gelingt ihm allerdings recht gut, obwohl Caruana frecherweise noch mehr Bedenkzeit verbraucht als der Zeitnotartist höchstselbst. Knapp vor dem 40. Zug hat der US-Amerikaner einen Mehrbauern. Die Computerprogramme sehen ihn im Vorteil, aber die beiden Großmeister sind sich nach dem Remisschluss einig, dass unter praktischen Gesichtspunkten eher schon Weiß mit seiner offenen Königsstellung aufpassen muss.

Ausfälle und Einbrüche

Bei Ding Liren gegen Karjakin muss Letzterer aufpassen, und zwar auf seine Dame. Die hat noch während der Eröffnung einen Bauern auf b2 verspeist, zur Strafe verweigert ihr die chinesische Kavallerie in Form einander deckender Springer auf d4 und b5 die Rückkehr in vertraute Gefilde. Karjakin erklärt im Nachgang, allzu viele Sorgen habe er sich um seine schwarze Monarchin trotzdem nicht gemacht, schließlich sei der Damenausflug "im Geiste der Eröffnung" gewesen, die er gespielt habe, mit braven Zügen komme man da nicht weiter. Tatsächlich bleibt Ding Liren zur Rechtfertigung seiner materiellen Investition nur ein ewiger Angriff auf Karjakins stärkste Figur. Nach 18 Zügen ist die Punkteteilung schon unterschriftsreif.

Die Partie zwischen Ding und Karjakin bleibt aber die einzige des Tages, die ohne größere Aufregung über die Bühne geht. Als Lewon Aronjan und Wladimir Kramnik in Runde drei aufeinandertrafen, hatte die Schachwelt einen spektakulären Sieg Kramniks im Duell der beiden Top-Favoriten bejubelt. In Runde sechs aber büßen die beiden ihren Status als aussichtsreichste Anwärter auf den Turniersieg womöglich dauerhaft ein: Beide unterliegen mit den schwarzen Steinen spielend, Kramnik gegen Mamedyarov, Aronjan ausgerechnet gegen das bisherige Schlusslicht Wesley So.

Im Ergebnis daraus fällt Wladimir Kramnik nach seinem fabelhaften Beginn nun mit 50% Punkteausbeute ins Mittelfeld zurück, Kollege Aronjan liegt noch einen halben Punkt dahinter auf dem vorletzten Rang: Schwere Zeiten für die beiden Turniersenioren. Schuld sind eine Glanzpartie Wesley Sos, der nach zwei Auftaktniederlagen doch noch ins Turnier findet, sowie eine abgebrühte Leistung Shakhriyar Mamedyarovs.

Mamedyarov im Aufwind

Der Aseri legt die Partie gegen Kramnik überraschend ruhig und positionell an, was sein Gegenüber verleitet, einer Zugwiederholung auszuweichen und ein weiteres Mal auf den vollen Punkt loszugehen. Wie schon gegen Fabiano Caruana überzieht Kramnik in der Folge, wobei diesmal ein simples taktisches Übersehen, beziehungsweise, in Kramniks eigenen Worten, "eine Halluzination" des Ex-Weltmeisters zur Niederlage führt. Mamedyarov jedenfalls gewinnt erst einen Bauern, dann die Partie und holt damit Fabiano Caruana an der Spitze ein.

Vor dem Ruhetag liegen Caruana und Mamedyarov mit 4 Punkten aus sechs Partien einen vollen Punkt vor ihren Verfolgern und sind damit derzeit die beiden einzigen Spieler mit Plus-Score. Acht weitere Runden sind noch zu spielen, am Sonntag wird das Kandidatenturnier mit Runde sieben fortgesetzt. Lewon Aronjan hat dann Weiß gegen Fabiano Caruana und wird wohl alles versuchen müssen, um den US-Amerikaner durch einen Sieg im direkten Duell einzuholen. (Anatol Vitouch aus Berlin, 17.3.2018)