Der Kanzler schenkt den Juden eine Mauer. Eine Idee des Vizekanzlers wird es ja nicht gewesen sein. Aber auch der Kanzler hat sich nicht überanstrengt, sondern die zwanzig Jahre alte Idee eines Mannes aufgegriffen, der vor den Nazis nach Kanada flüchten musste, die zu realisieren in Österreich bisher niemand für notwendig befunden hat. Wien wäre auch nicht die erste Stadt mit einer solchen Gedenkstätte, in die die Namen aller jüdischen Opfer des Naziterrors eingraviert sind, anderswo hat man damit nicht achtzig Jahre gewartet. Und es wären die Namen der Opfer ohne eine solche Mauer auch nicht dem Vergessen preisgegeben, sie liegen im Wiener Stadttempel auf. Entgegen Zeitungsberichten à la "Kurz baut Gedenkmauer" baut auch Kurz keine Mauer, sondern die Regierung will lediglich einen privaten Verein unterstützen, der diesen Plan seit zwanzig Jahren vergeblich gehegt hat. Und weil die Regierung bekanntlich schon wegen des Nulldefizits am richtigen Platz sparen muss, soll die Stadt Wien für die halben Kosten aufkommen. Wann es zum Mauerbau kommen soll, ließ man offen.

Was immer aus der Ankündigung wird, den beabsichtigten Hauptzweck hat sie wenigstens erfüllt – ein dringend benötigtes Feigenblatt für die Koalition von Sebastian Kurz mit einer Partei zu liefern, aus deren Reihen das Verständnis für die Mörder derer, die namentlich auf der Mauer aufscheinen sollen, immer wieder aufflammt, sei es in Form von Verherrlichung, sei es als Verharmlosung. Deren Führung, entgegen allen Beteuerungen bei offiziellen Gedenkanlässen, nichts tut, um in ihren Reihen endlich eine klare antifaschistische Haltung einziehen zu lassen. Deren Regierungsmitglieder im Gegenteil schon wieder unverhohlen davon sprechen, Menschen "konzentrieren" zu wollen, und Druck auf Journalisten als ihr selbverständliches Recht auf Satire beanspruchen. Deren Chefideologe den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde als "Kaffeeröster" verunglimpft. Eine ständige Verpflichtung will Strache das Andenken "an unsere vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürger" sein – das sollte er einmal seinen Zuhörern im Bierzelt und seinen Fans auf Facebook beibringen, da könnte er Mauern des Vorurteils wirksamer niederreißen als mit demonstrativen Reisen an die Klagemauer.

Mit einem Feigenblatt wird man Entwicklungen nicht bremsen können, wie sie das Institut für Zeitgeschichte der Wiener Universität erhoben hat. Die Toleranz gegenüber Juden und Muslimen nimmt ab. Jeder Vierte wünscht sich einen Führer, der auf Wahlen oder ein Parlament keine Rücksicht nehmen muss. Die Sehnsucht nach Erlöserfiguren wächst. Und wer hat die – zunächst einmal in der eigenen Partei – nachdrücklicher gepflegt als ein Sebastian Kurz? "Jeder Mensch trägt nicht nur Verantwortung dafür, was er tut, sondern vor allem dafür, was er nicht tut", ließ er beim Gedenken an 1938 verlauten. Zum Beispiel dafür, wem er Polizei, Heer und Geheimdienste anvertraut und wem, aus historischen Erfahrungen, bestimmt nicht. Kurz hätte in beide Richtungen einiges zu tun, um seiner Gedenktagsmoral gerecht zu werden. (Günter Traxler, 15.3.2018)