In den Jahren vor und unmittelbar nach der Wende von 1989 stand der Begriff "Mitteleuropa" in Österreich hoch im Kurs. In unseren Nachbarstaaten war die Demokratiebewegung voll im Gange, und die Österreicher fühlten sich mit deren Bürgern, mit denen sie eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte teilten, eng verbunden. Das ist heute vorbei.

Jetzt steht eine andere Frage im Vordergrund: Gehören wir eher zu den Visegrád-Staaten, die sich allmählich von der Europäischen Union und deren Werten wegbewegen? Oder doch zu den westlichen Kernländern der Union? Ist Viktor Orbán, den unsere Regierung so gern hofiert, unser Freund? Oder orientieren wir uns lieber an den westlichen Führungspersönlichkeiten Angela Merkel und Emmanuel Macron? Es wächst zusammen, was zusammengehört, sagte Willy Brandt einst am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung. Viele wandten dieses Wort auch auf das Wiederzusammenwachsen des westlichen und des östlichen Europa an. Heute meinen viele: Es strebt auseinander, was eben doch nicht wirklich zusammengehört. Liberale Demokratie in Frankreich und Deutschland. Illiberale Demokratie in Ungarn und Polen.

Österreich steht in der Mitte. Erhard Busek, lange Zeit so etwas wie der österreichische Mitteleuropäer vom Dienst, sagte vor kurzem im Fernsehen, Europa müsse Verständnis für die ehemals kommunistischen Länder haben. Es brauche eben seine Zeit, bis die Menschen dort ihre autoritäre Vergangenheit überwunden hätten. Osteuropa sei in Brüssel zu wenig vertreten, das führe dazu, dass viele Menschen in jenen Ländern sich schlecht behandelt und geringgeschätzt fühlten. Da ist etwas dran. Aber kann man die Ostmitteleuropäer wirklich ganz und gar mit ihren Regierungen gleichsetzen? Es gibt dort nämlich, heute wie in kommunistischen Zeiten, eine lebendige Zivilgesellschaft, die tapfer und beharrlich gegen Demokratieabbau kämpft.

In Polen gingen Zehntausende auf die Straße, als die Justiz gleichgeschaltet wurde. In Ungarn setzen sich viele Intellektuelle für die Zentraleuropäische Universität in Budapest ein, die bei der Regierung in Ungnade gefallen ist. In der Slowakei hat die Ermordung eines Enthüllungsjournalisten Massendemonstrationen gegen die Regierung hervorgerufen, die an die Stimmung von 1989 erinnern. Alle diese Protestierer brauchen europäische Solidarität, nicht zuletzt aus Österreich.

Zu Kreiskys Zeiten erhielten die osteuropäischen Dissidenten viel Unterstützung aus Wien, obwohl man auch damals den Kontakt mit den jeweiligen Regierungen nicht abreißen ließ. Heute versteht sich Bundeskanzler Kurz als Vermittler zwischen Ost- und Westeuropa. Das ist auch gut so. Aber Ungarn ist nicht nur Viktor Orbán, und Polen ist nicht nur Jaroslaw Kaczynski. Wenn die Österreicher Mitteleuropäer und Brückenbauer sein wollen, sollten sie auch diejenigen nicht vergessen, die sich in unseren Nachbarländern für die Werte einsetzen, die den Kern der Europäischen Union darstellen: Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenrechte. Wer "Balkanroute" sagt, sollte, wenn er als Vermittler ernst genommen werden will, auch "Pressefreiheit" sagen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 14.3.2018)