Künstlich deformierter Schädel einer Frau aus dem frühmittelalterlichen Fundplatz Altenerding: Solche Kopfveränderungen wurden früher den Hunnen zugeschrieben. Die aktuellen Untersuchungen zeigen allerdings, dass dieses Individuum zusammen mit anderen Frauen aus dem Schwarzmeerraum nach Bayern eingewandert ist.

Foto: Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München

Drei Kopfformen im Vergleich: Die stark, mittel und nicht deformierten Schädel (von links) stammen aus den frühmittelalterlichen Fundplätzen Altenerding und Straubing.

Foto: Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München

München – Nach dem Ende des Weströmischen Reichs und der wechselvollen Völkerwanderungszeit siedelten in Mitteleuropa des Frühmittelalters zahlreiche verschiedene Stämmen wie etwa die Alamannen, die Franken oder die Langobarden. Welche Bevölkerungen populationsgenetisch tatsächlich hinter diesen Begriffen stecken, war allerdings bisher weitgehend unklar. Ein internationales Team hat nun Überreste von 40 Menschen aus der Zeit um 500 genetisch untersucht, die auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reichs im heutigen Bayern lebten. Dabei kamen die Wissenschafter zu verblüffenden Ergebnissen.

Verformte Schädel

Während ein Großteil der alten Bayern genetisch wie Mittel- beziehungsweise Nordeuropäer aussieht, fällt eine Gruppe von Individuen völlig aus dem Rahmen. Diese Gruppe war zuvor schon rein optisch durch Verformungen ihrer Schädel aufgefallen. Es ist bekannt, dass solche Deformationen in unterschiedlichen Bevölkerungen und zu unterschiedlichen Zeiten vorgenommen wurden, um dem Kopf eine charakteristische Turmform zu verleihen. "Eltern umwickelten dafür den Kopf ihrer Kinder einige Monate lang nach der Geburt mit Bandagen, um diese Form zu erreichen", erklärt Michaela Harbeck von der Staatssammlung für Anthropologie München.

Warum sie dieses aufwendige Verfahren durchführten, lässt sich heute kaum mehr mit Bestimmtheit sagen. Die Wissenschafter vermuten, dass damit einem bestimmten Schönheitsideal nachgeeifert oder eine Gruppenzugehörigkeit angezeigt wurde." Über den Ursprung des Brauchs in Europa gab es bislang nur Vermutungen. "Für viele galt die Hypothese, dass die Hunnen die Tradition der Schädeldeformation nach Ost- und Mitteleuropa gebracht haben", erklärt Brigitte Haas-Gebhard, Koautorin der im Fachjournal "PNAS" veröffentlichten Studie.

Aus der Schwarzmeerregion

Die historisch-genetischen Untersuchungen ergaben jedoch, dass es sich bei den mittelalterlichen Personen mit Schädeldeformation um Frauen handelte, die um 500 aus dem Schwarzmeerraum in die bayerischen Siedlungen migriert waren. "Zwar gibt es deutliche Hinweise, dass es auch Einflüsse aus Zentral- oder gar Ostasien gab, aber die genomische Herkunftsanalyse verweist darauf, dass die Frauen mit deformiertem Schädel genetisch heutigen Bulgaren und Rumänen am ähnlichsten sind", stellt Joachim Burger, ebenfalls Koautor von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) fest. "Ein direkter genetischer Einfluss von zentralasiatischen Hunnen kann nur marginal gewesen sein."

Dabei unterschieden sich diese Frauen nicht nur durch ihre deformierten Schädel, sondern sie fielen auch durch andere äußerliche Merkmale, etwa durch eine deutlich dunklere Haar- und Augenfarbe, auf. Die große Mehrheit der anderen Bayern war blond- und blauäugig, so wie man es heute allenfalls in Skandinavien findet.

Frühmittelalterliche "weibliche Mobilität"

Aber die Migration nach Bayern endete nicht mit diesen Frauen. Nur wenig später lassen sich zwei Personen nachweisen, die ihre nächsten genetischen Verwandten unter heutigen Griechen oder Türken besitzen – und wieder waren es Frauen. "Es ist dies ein einmaliges Beispiel von weiblicher Mobilität, die größere Kulturräume überbrückt", sagt Burger. "Wir müssen damit rechnen, dass noch viele weitere, bislang ungeahnte bevölkerungsdynamische Phänomene an der Genese unserer frühen Städte und Dörfer mitgewirkt haben." Unter welchen – womöglich für die Betroffenen unfreiwilligen – Umständen die Frauen tatsächlich nach Zentraleuropa gelangten, bleibt freilich unklar.

Archäologische Funde wie Grabbeigaben und Tracht gaben keine Hinweise auf die Herkunft der Menschen. "Die meisten der fremden Frauen sind kulturell dem Rest der Bevölkerung sehr ähnlich und wirken assimiliert. Alleine aus den materiellen Hinterlassenschaften hätten wir diesen Fall nicht so rekonstruieren können", so Haas-Gebhard.

"Interessanterweise finden sich in den untersuchten frühen Einwohnern Bayerns keinerlei genetische Spuren, die auf ein mediterranes Erbe hindeuten, wie es durch Soldaten der römischen Armee hätte kommen können", meint Harbeck. "Wieviel Kelten und Römer in diesen frühen Bajuwaren stecken, müssen wir allerdings auf noch breiterer Basis weiter untersuchen." (red, 13.3.2018)