Er wurde als "Nazi-Bua" tituliert, sie als Tochter "von einer Nazi", die zum Judentum konvertierte: Wolfgang Sobotka und Hannah M. Lessing.

Foto: Heribert Corn

Hannah M. Lessing: "Ich erhoffe mir von der Politik eine ganz starke Position, wenn so etwas passiert, dass man sagt: Stopp, das geht nicht!"

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Wolfgang Sobotka: "Es wäre für mich richtig, einen Besuch in einer KZ-Gedenkstätte im Integrationsgesetz zu verankern."

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STANDARD: 2018 wird anlässlich 100 Jahre Republik als "Gedenk- und Erinnerungsjahr" begangen. Also auch eine Gelegenheit für die Gesellschaft, über historische Zäsuren, die oft auch in die eigene Familie eingeschrieben sind, zu reden. Herr Sobotka, Ihr Großvater war "illegaler Nationalsozialist", einer "reinsten Wassers". Wie ist Ihre Familie damit umgegangen?

Sobotka: Mein Großvater war zuerst christlichsozial und wurde dann Nationalsozialist. Ich habe seine Bibliothek geerbt und mich immer gewundert, wie ein Mensch, der bei Goethe seine Anmerkungen gemacht hat, Nationalsozialist sein konnte. Da ich ihn nie kennengelernt habe – er starb 1943, da war mein Vater 17 -, war ich darauf angewiesen, wie andere das gesehen haben. Er war sicher eine sehr autoritäre Person – zugleich waren bei uns immer zwei Kinder beim Mittagstisch, deren Väter keine Arbeit hatten. Von diesen Familien bekomme ich bis heute die Erinnerung an meinen Großvater als einen sozial engagierten Menschen. Dieser Widerspruch ist für mich bis heute schwer nachvollziehbar. Mein Vater, ein Lehrer, war das glatte Gegenteil, was die politische Gesinnung betrifft, schwer kriegsverletzt und traumatisiert. Eine laut zufallende Türe ließ ihn zusammenzucken. Meine Großmutter kam nach 1945 in ein Lager, und ihr Sohn war dadurch natürlich auch gebrandmarkt.

STANDARD: Haben Sie das als Enkel auch als Brandmarkung oder als mit Scham behaftet empfunden?

Sobotka: Natürlich. Ich wurde ob der Gesinnung meines Großvaters von manchen als Nazi-Bua tituliert. Ich war immer schon historisch interessiert, aber das hat mich besonders dazu gebracht, diese Zeit aufzuarbeiten, auch im Dokumentationsarchiv etwa über den Widerstand im Ybbstal. Gleichzeitig wurde man als Lehrer in der Schule eben dafür von jenen etwas scheel angeschaut, die unter der Nazizeit gelitten hatten. Auch Opfer des Nationalsozialismus wollten die Decke des Schweigens darüberbreiten und das eigentlich nicht aufarbeiten.

STANDARD: Frau Lessing, Sie kommen aus einer solchen "Schweigefamilie". Ihre Großmutter wurde im KZ Auschwitz ermordet, was Sie erst spät erfahren haben, weil Ihr Vater, der Fotograf Erich Lessing, nicht darüber gesprochen hat. Wie sind Sie mit ihm und Ihrer Mutter, der Journalistin Traudl Lessing, ins Sprechen gekommen?

Lessing: Wir sind bis heute eigentlich nicht ins Sprechen gekommen. Ich war im Lycée die Einzige ohne religiöses Bekenntnis. Als ich acht war, kam die katholische Religionslehrerin zu mir, drückte mir ein kleines Holzkreuz in die Hand und sagte: "Du könntest Erstkommunion machen wie alle anderen." Meine Mutter hat das Kreuz angeschaut und gesagt: "Hannah, wenn wir irgendetwas sind, dann sind wir Juden." Dann ist sie mit uns drei Kindern in die Kultusgemeinde gegangen, um zum Judentum überzutreten.

STANDARD: Nicht ganz problemlos.

Lessing: Ja, denn meine Mutter war im Krieg im Arbeitsdienst bei Baldur von Schirach, dem Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien, in der Luftwarnzentrale. Sie war der "Kuckuck" von Wien, der im Radio vor Bomberangriffen der Alliierten warnte. Meine Mutter war keine Täterin, sie war 16, sie war im BDM, aber ihre Eltern und sie waren nie in der Partei. Das heißt, ich komme aus einer zweigeteilten Familie, und keine Seite hat jemals erzählt. Und so wie Sie in der Schule Nazi-Bua genannt wurden, waren wir in der Kultusgemeinde die Kinder von einer Nazi. Über die Jahre haben wir dann ein bisschen erfahren von meiner Mutter, wenn sie ein Interview, etwa für Österreich II von Hugo Portisch, gegeben hat. Mein Vater hat geschwiegen.

Sobotka: Wann ist er geboren?

Lessing: 1923. Er ist mit 16 weg aus Wien, hat seine Mutter und Großmutter zurückgelassen, ist nach Triest und mit einem der letzten Schiffe nach Haifa in die Emigration, ist aber, da er kein Zionist war, 1946 schon wieder zurückgekommen, wo er meine Mutter, die Journalistin bei der Associated Press war, kennenlernte. 1997, da war ich zwei Jahre im Nationalfonds, sagte ich zu ihm: "Papa, ich habe jetzt schon 20.000 Geschichten gehört, und deine kenne ich noch immer nicht." Irgendwann hat er gesagt: Treffen wir uns im Restaurant. Sag ich: Warum? Sagt er: Na, du wolltest doch was von mir hören. Ich: Ja, okay, aber können wir uns zu Hause treffen, ich würde gern ein Aufnahmegerät mitnehmen. Er: Nein, wir treffen uns im Restaurant. Sogar da wollte er ...

Sobotka: Distanz.

Lessing: Ja, so distanziert wie möglich. Dann hat er mir Gschichtln erzählt, nicht seine Geschichte. Ich wollte ja auch nicht seine Angst spüren. Die zweite Generation ist ganz verfangen in ihrer Angst, das Falsche zu fragen. Die dritte Generation, meine Nichte, hat mit meinem Vater ganz offen geredet, weil sie alles ertragen konnte. Uns wollte er schützen. Er hat den Krieg überlebt, das hieß: Er ist unverwüstlich, unkaputtbar. Wir Kinder durften nicht tauchen, das kann die Lunge zerstören, nicht Motorrad fahren, viel zu gefährlich. Wir wurden überall geschützt: Wir waren zerbrechlich.

Sobotka: Ich durfte nicht zu den Pfadfindern, weil die eine Uniform hatten. Ich durfte keiner Organisation beitreten, die irgendetwas Politisches hatte. Ich durfte keine Spielzeugpistole, keinen Panzer haben. Es war alles verboten, was nur irgendwie mit dieser Zeit zu tun hatte. Und auch bei uns wurde nie geredet, bis ich das erzwungen habe. Ich wollte wissen, bei welcher Division mein Vater war, wie die Ausbildung und der Partisanenkampf im ehemaligen Jugoslawien waren, wo er verletzt wurde. Er hatte mit diesem Regime absolut gebrochen und sich auch von seiner Jugend losgesagt. Erst mit fast 80 gab es ein Fenster, wo er ein bisschen gelüftet hat. Zum Schluss blieb nur der fassungslose Schrecken, wie das passieren konnte, und die bittere Bilanz: Mir hat man meine Jugend und meine Gesundheit gestohlen.

STANDARD: Wie geht es Ihnen vor diesem Hintergrund damit, wenn heute antisemitische Liederbücher in Burschenschafterbuden auftauchen, die einen engen Konnex zum Koalitionspartner Ihrer Partei – zur FPÖ – haben? Nervt, empört Sie das?

Sobotka: Absolut, und das werden wir noch länger finden. Dieser Bodensatz wird ja auch immer wieder neu genährt. Antisemitismus ist ein Phänomen, das sich immer wieder in ganz primitiver Form zeigt. Wichtig ist, dass die Gesellschaft so eine Widerstandsfähigkeit hat, das in keiner Form zu tolerieren oder zu akzeptieren oder wegzuschauen. Es muss unser Ziel sein, dass eben keine Flüchtlingsheime brennen, keine Kirchen, Synagogen oder Moscheen angegriffen werden und Leute den Dialog suchen und sich gegen Gewalt entscheiden. Wir müssen alles tun, um den Anfängen zu wehren.

STANDARD: Frau Lessing, Sie tragen den Davidstern um den Hals. Haben Sie Antisemitismus erlebt?

Lessing: Überhaupt nicht. Ich habe ihn immer offen getragen und in Wien wirklich noch nie Probleme damit gehabt. Aber Demokratie ist unglaublich zerbrechlich. Ich erhoffe mir von der Politik eine ganz starke Position, wenn so etwas passiert, dass man sagt: Stopp, das geht nicht! Das kann auch nicht alles die Schule machen. Mit 13 oder 14 ist ein Jugendlicher ziemlich gefestigt in seinen Überzeugungen, die bekommt er von zu Hause mit. Wie sollen Eltern wissen, was Recht oder Unrecht ist, wenn die Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht sagen: Stopp, das ist bei uns nicht akzeptabel.

STANDARD: Wie werden denn diese Liederbuch-Vorfälle von Überlebenden der NS-Zeit beobachtet?

Lessing: Wenn mich Überlebende anrufen oder ich ins Ausland fahre, werde ich schon gefragt: Müssen wir uns Sorgen machen um unsere alte Heimat? Da sage ich natürlich: Nein, weil ich glaube, dass wir stark genug sind, aber wir müssen wirklich achtsam sein und klare Grenzen setzen und auf unsere Demokratie aufpassen.

STANDARD: Wie muss sich die Erinnerungskultur, die bei uns ausgehend von der besonderen Verantwortung für den Holocaust organisiert ist, verändern, wenn sie eine zunehmend multikulturelle Gesellschaft erreichen soll, in der viele gar keinen Bezug zur NS-Zeit haben, vielleicht aber zu anderen genozidalen Erfahrungen, und langsam auch die letzten Zeitzeugen sterben?

Lessing: Besonders für die Zeitzeugen ist der Holocaust einzigartig. Das darf man auch nicht antasten. Für sie ist jeder Vergleich mit einem anderen Genozid problematisch. Er muss aber hergestellt werden, um genau das in heutige multikulturelle Klassen hineinzubringen. Man kann dann fragen: Seht, wir haben Kindertransporte erlebt, und da gibt es den afghanischen Buben bei euch in der Klasse, der hat seine Familie zurückgelassen, sich an einen Lastwagen gehängt und ist über die Grenze und ist jetzt allein hier. Fällt euch da etwas auf? Ähnlichkeiten?

Sobotka: Man kann es nicht vergleichen, das ist richtig. Aber es ist notwendig, dass wir Menschen, die zu uns kommen, die Asyl erhalten, auch mit dieser historischen Einzigartigkeit konfrontieren als Teil unserer Geschichte, die jetzt auch Teil ihrer Geschichte ist. Es wäre für mich richtig, einen Besuch in einer KZ-Gedenkstätte im Integrationsgesetz zu verankern. Heute haben wir Klassen, in denen die Hälfte oder mehr Kinder noch gar kein Verständnis haben, auch weil sie teils aus Regionen kommen, in denen Antisemitismus Staatsideologie war oder das Existenzrecht Israels negiert wird. Darum müssen wir uns kümmern. (Lisa Nimmervoll, 10.3.2018)