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Geschichten, die sich aus Prozessen zusammensetzen: Ferdinand von Schirach legt mit "Strafe" sein neues Buch vor.

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"Strafe" von Ferdinand von Schirach.

Luchterhand-Verlag, 192 Seiten, 18,50 Euro.

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Wien – Nach "Verbrechen" und "Schuld" schließt Ferdinand von Schirach mit "Strafe" seine Gerichtstrilogie ab.

STANDARD: Was ist die härteste Strafe, zu der ein Mensch verurteilt werden kann?

Ferdinand von Schirach: Es sind die Strafen, die wir über uns selbst verhängen. Wir sind ja in der Lage, irgendwann jedem zu verzeihen, selbst unseren schlimmsten Gegnern, selbst den Menschen, die uns nur Übles wollen. Aber uns selbst können wir nicht vergeben.

STANDARD: Und wie ist es damit: Getrennt zu sein vom Liebsten und Notwendigsten?

Schirach: Natürlich. Aber vielleicht ist es doch schlimmer, von sich selbst getrennt zu werden. Wenn wir zu sehr unter unserer Schuld leiden, trennen wir uns vom eigenen Ich. Der Schmerz, der uns von außen zugefügt wird, kann furchtbar sein, aber er lässt sich irgendwie ertragen.

STANDARD: Wann sind Sie von sich selbst getrennt?

Schirach: Denken Sie einen Moment an Ihre intensivsten Erinnerungen zurück. Diese Erinnerungen sind nicht mit Liebe oder Glück verbunden, sondern mit Scham. Oft schämen wir uns so sehr, dass wir über diese Dinge jahrelang nicht sprechen können, auch nicht mit dem Menschen, mit dem wir zusammenleben. Aus diesem Schweigen entsteht Einsamkeit.

STANDARD: Dann ist Einsamkeit die größte Strafe?

Schirach: Wenn es zu viel wird, verdunkelt sie das Leben, ja.

STANDARD: Kann Schreiben Strafe sein?

Schirach: Aber nein, überhaupt nicht. Schreiben zu dürfen ist ein wunderbarer Beruf. Es stimmt schon, wenn man schreibt, kann man nichts sonst mehr tun. Jede Ablenkung wirft zurück, jeder Anruf, jede E-Mail, jede Verabredung stört. Aber dafür bekommt man etwas anderes, etwas ganz und gar Wunderbares: Man reist in seinem Kopf, man trifft seine Figuren, und am Ende lebt man ganz in seinem Buch. Vielleicht ist die Idee des gequälten Künstlers doch nur ein Bild der Romantik – das Genie, das sich aufopfert, um Kunst zu schaffen. Nein, Schreiben ist zu einem großen Teil handwerkliche Arbeit und nur zu einem kleinen Teil der "geniale Einfall".

STANDARD: Die Geschichten zu Strafe basieren, wie zuvor in "Schuld" und "Verbrechen", auf realen Rechtsfällen. Wie gehen Sie vor?

Schirach: Ich unterliege der anwaltlichen Schweigepflicht und kann nicht einfach von Fällen erzählen, die genauso abgelaufen sind. Ich erzähle Geschichten, die ich aus vielen verschiedenen Mandaten neu zusammensetze. Sie können sich das vorstellen wie in einer alten Druckerei, in deren Setzkästen vierzigmal das E und fünfzehnmal das A liegt. Das sind einzelne Szenen, Menschen, Dialoge, Orte und so weiter, die ich neu arrangiere.

STANDARD: Die letzte Geschichte – "Der Freund" – im Buch weicht stark vom Gesamtkonzept ab: Sie beschreiben, wie Sie Schriftsteller wurden. Das war wichtig?

Schirach: Ich weiß nicht, ob es wichtig war, das weiß man nie, wenn man schreibt. Als ich mit den Kurzgeschichten anfing, wusste ich, dass es drei Bände sein mussten, weil das der Prüfungsreihenfolge vor Gericht entspricht. Zunächst muss ein Verbrechen vorliegen, eine vorsätzlich oder fahrlässige rechtswidrige Tat. Dann wird geprüft, ob der Angeklagte Schuld auf sich geladen hat. Wenn beides bejaht wird, verurteilt der Richter zu einer Strafe. Die letzte Geschichte in "Strafe" ist eigentlich die erste – sie erklärt, warum ich schreibe.

STANDARD: Wieder warten Sie mit fatalen Folgen des Rechtssystems auf, die mitunter beunruhigende Folgen haben können: dass man nicht zweimal für ein und dasselbe Delikt verurteilt werden kann. Das setzt Fantasien frei.

Schirach: Die Vorschrift schützt Sie vor Verfolgung. Wenn ein Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist, dürfen Sie nicht noch einmal für das gleiche Delikt anklagt werden. Aber Sie haben recht, viele Vorschriften der Strafprozessordnung können in Ausnahmefällen zu ungerechten Ergebnissen führen. Das müssen wir ertragen, es ist Teil des Rechts.

STANDARD: Filme und Serien werden manchmal vom Publikum auf ihre Tauglichkeit getestet. Wann wissen Sie, ob eine Story funktioniert?

Schirach: Eine Geschichte "funktioniert", wenn sie uns berührt. Das Leben und die Taten eines Psychopathen gruseln uns vielleicht, aber eigentlich ist uns alles daran fremd. Die Geschichte eines alten Ehepaares, das seit 40 Jahren verheiratet ist und sich sprachlos nicht mehr erträgt, kann uns dagegen berühren, weil wir etwas in ihr wiederfinden, was uns selbst betrifft. Am Ende ist das das einzige Kriterium: Erzählt eine Geschichte uns etwas über uns selbst?

STANDARD: Ihr Stück "Terror" wurde in mittlerweile mehr als 20 Ländern aufgeführt, lief im Fernsehen, darunter auch im ORF. Die Freisprüche überwiegen: Haben Sie damit gerechnet?

Schirach: Das Stimmverhältnis zwischen Freispruch und Verurteilung liegt in fast allen Ländern bei 40 zu 60. Es ist natürlich viel leichter, den Piloten freizusprechen, weil es dem "gesunden Menschenverstand" entspricht. Um zu verurteilen muss der Zuschauer die Würde eines Menschen höher setzen als sein Leben. Das ist schwierig. Aber nicht die Ergebnisse sind entscheidend. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin und her gerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem Forum, auf dem die res publica, die öffentliche Sache, verhandelt wird.

Florian David Fitz spielt in der TV-Produktion "Terror – Ihr Urteil" Lars Koch, der wegen Mordes an 164 Personen angeklagt ist.
Foto: ORF/ARD

Die Abstimmung dient nur der Anregung, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung nicht zum Essen gingen, sondern im Foyer blieben und weiter miteinander diskutierten. Jeder wusste natürlich, dass er nicht wirklich über Schuld eines Menschen entschieden hatte. Aber alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig.

STANDARD: Welcher moralische Konflikt der Rechtsprechung könnte Sie noch interessieren?

Schirach: Solche Dilemmata gibt es andauernd. Nehmen Sie das Seuchengesetz: Es bricht eine Seuche aus, die Infizierten können kaserniert werden, um die nicht Infizierten zu schützen. Nun gibt es aber eine Gruppe von Leuten, bei denen unklar ist, ob sie infiziert sind oder nicht. Nach dem Seuchengesetz dürfen diese Menschen auch kaserniert werden und sterben dort. Sie werden geopfert, damit die anderen überleben. Es ist nicht schwer, Beispiele zu finden, wo wir uns an einer Grenze des Rechts und der Moral bewegen.

STANDARD: Wie hätten Sie im Fall von "Terror" geurteilt?

Schirach: Es ist keine gute Idee, in Einzelfällen Verfassungsprinzipien außer Kraft zu setzen. Die Würde des Menschen halte ich für eine der bedeutendsten Erfindungen der Aufklärung. Wir dürfen sie unter keinen Umständen opfern. Ich hätte den Piloten also verurteilt.

STANDARD: Kann man das Urteil des Publikums in der Inszenierung nicht bewusst herbeiführen? Unsympathischer Staatsanwalt, eloquente Verteidigung ...

Schirach: Natürlich, aber das bedeutet nicht, dass etwas gesteuert wird. Sie können einen sehr gut aussehenden, sympathischen, freundlichen Angeklagten vor Gericht stellen oder einen unsympathischen, unfreundlichen Angeklagten – das Urteil wird vermutlich unterschiedlich ausfallen. Das ist auch im wirklichen Leben vor Gericht so.

STANDARD: Vielleicht auch, weil öffentlich-rechtliche Sender ihr Publikum nicht unbedingt "Richter Gnadenlos" spielen lassen wollen?

Schirach: Aber nein. Es gab keine Einflussnahme vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wir hatten völlig freie Hand.

STANDARD: Sie sagten einmal, Osama Bin Laden hätte Sie als Mandant interessiert. Wie hätten Sie ihn verteidigt?

Schirach: Das Interessante an solchen Mandaten ist, die Ideologie eines Menschen kennenzulernen und vor Gericht zu diskutieren. Mir zumindest geht es so, dass ich den Terror nicht verstehe. Ich begreife weder die Ziele noch die Mittel, ich sehe nur, dass es menschenverachtende, völlig wahnsinnige Morde sind. Aber die Tatsache, dass wir so wenig darüber wissen, macht es uns schwer, dagegen anzutreten.

STANDARD: Die Frage ist: Was steckt hinter dem Fanatismus?

Schirach: Ja. Wie ist das alles eigentlich entstanden? Erst wenn wir das begreifen, haben wir eine Möglichkeit, Terror langfristig zu verhindern. Sonst bekämpfen wir immer nur weiter die Symptome, nie aber die Ursachen. Gibt es denn überhaupt eine Lösung? Gibt es etwas, was die Terroristen dazu bringt, von ihrem Tun abzulassen? Oder ist ihr Ziel einfach nur die Vernichtung des Westens?

STANDARD: Eine Frage zur politischen Lage in Deutschland: Viele fordern Klarheit – ein Fall für Ferdinand von Schirach?

Schirach: Ich fürchte, ich wäre als Politiker ungeeignet. Ich würde an der Fülle von Kompromissen verzweifeln. Und ich würde nicht ertragen, der Öffentlichkeit so sehr ausgesetzt zu sein.

STANDARD: Deutsche Journalisten bekunden ihre Sorge gegenüber dem ORF nach FPÖ-Attacken. Würden Sie das unterschreiben?

Schirach: Ich setze mich gerne für Menschen ein, denen Unrecht geschieht, aber ich mag keine Aufrufe unterschreiben.

STANDARD: In Ihrer vielbeachteten Rede bei den Salzburger Festspielen 2017 sprachen Sie vom wilden, brutalen Volkszorn. Wie hat sich das seither entwickelt?

Schirach: Es ist nicht besser geworden.

STANDARD: Was kann man tun?

Schirach: Es ist sehr schwierig und sicher eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Der Staat und die Justiz haben bis heute keine funktionierenden Instrumentarien entwickelt, um mit dieser neugeschaffenen Öffentlichkeit in den sozialen Netzwerken umzugehen. Und durch die künstlichen Intelligenzen drohen jetzt ganz neue Gefahren.

Seit kurzem gibt es Deep-Fake-Pornos – künstliche Intelligenz setzt das Gesicht eines Prominenten auf das Gesicht eines Darstellers in einem Pornofilm, es sieht vollkommen echt aus. Die KI ist so preiswert, dass Private ohne großen Aufwand solche Pornos herstellen können, es gibt sie jetzt überall im Netz. Das ist natürlich albern und kaum mehr als eine unappetitliche Spielerei. Aber ebenso einfach lässt sich die Originalstimme eines Menschen manipulieren. Es ist ganz einfach, Donald Trump auf diese Weise eine Kriegserklärung gegen den Sudan in den Mund zu legen. Stellen Sie sich vor, so ein Video wird ins Internet gestellt – innerhalb von Minuten würde das zu einem völligen Chaos führen.

Bis die Politik das wieder eingeholt hat, ist ein riesiger Schaden, vielleicht sogar eine militärische Auseinandersetzung entstanden. Wir sind auf diese neuen Methoden überhaupt nicht vorbereitet. Was wir also brauchen, sind Marken, denen wir vertrauen. Wir brauchen verantwortliche Journalisten, wir brauchen die "Tagesschau" oder das "Heute-Journal" oder den "Spiegel" oder den "Guardian", von denen wir annehmen dürfen, dass uns dort die Wahrheit gesagt wird. (Doris Priesching, 5.3.2018)