Wer abseits der großen Show die seriöse Seite des italienischen Wahlkampfs sucht, wird in der Gemeinde Riva presso Chieri unweit der Metropole Turin fündig. Ein brasilianisches Tochterunternehmen von Whirlpool namens Embraco stellt in dem Ort Kompressoren für Kühlschränke her. Vor wenigen Wochen, inmitten der heißen Wahlkampfphase, kündigte Embraco an, sein italienisches Werk dichtzumachen.

Die Kompressoren sollen künftig in der Slowakei billiger erzeugt werden – gut 500 Arbeitnehmer wurden zur Kündigung angemeldet. Die Geschichte entwickelte sich zu einem PR-Desaster für die regierende sozialdemokratische PD. Italiens Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Carlo Calenda, flog nach Brüssel und verhandelte mit der EU-Kommission über eine mögliche Staatshilfe.

Damit demonstrierte er aber erst recht die Hilflosigkeit der Politik: Die Regierung würde Embraco finanziell unter die Arme greifen, um die Firma damit zum Verbleib zu überreden. Doch das ist in der EU kaum möglich, weil Staatsbeihilfen im Regelfall untersagt sind.

Komplizierte Beziehung

Das Tauziehen geht weiter: Minister Calenda attackierte zuletzt die Slowakei. Das Land nutze die üppigen EU-Förderungen, um Unternehmen anzulocken.

Die Affäre um Embraco illustriert gut, weshalb Italiens Verhältnis zum Euro und zur EU derzeit so kompliziert ist. Das Land gilt, so wie Deutschland in den 90er-Jahren, als der kranke Mann Europas, und daran dürfte der Euro laut vielen Ökonomen eine Mitschuld tragen. Das Wirtschaftswachstum hat 2017 zwar wieder angezogen, die Arbeitslosigkeit geht zurück, Exporte entwickeln sich gut.

Doch blickt man länger zurück, ist das Gesamtbild desaströs. Der Wohlstand ist heute niedriger als zur Zeit des Eurobeitritts. Die vergangenen 20 Jahre haben Italien Dauerstagnation gebracht. Die Arbeitslosenrate liegt bei 10,8 Prozent, das ist doppelt so hoch wie in Österreich. Die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen beträgt gar 33 Prozent – der zweithöchste Wert in der EU hinter Griechenland.

Der einfache Ausweg

Was das mit dem Euro zu tun hat? In der Vergangenheit wurde die Lira bei Bedarf abgewertet: Dadurch wurden im Inland produzierte Maschinen und Pkws für ausländische Käufer billiger. Dieser Ausweg ist Italien seit dem Eurobeitritt verwehrt. Darunter hat die Exportwirtschaft gelitten.

Italiens Unternehmen produzieren heute weniger als in den 1990er-Jahren. Der Euro erschwerte der Industrie das Leben. Das machte Investitionen in neue Maschinen und Anlagen weniger interessant. Darunter leidet die Innovationsfähigkeit der Betriebe bis heute. Das Produktivitätswachstum der italienischen Unternehmen hinkt den Konkurrenten in Deutschland, Österreich und Spanien weit hinterher.

Laut der Industriestaatenorganisation OECD kämpft Italien zudem mit Mittelmäßigkeit: In kaum einer Branche dominieren italienische Unternehmen die globalen Märkte, dem Land fehlen, wenn man so will, die Doppelmayrs (Skilifte) und Palfingers (Kräne), die es in Österreich gibt. Solche Weltmarktführer sind laut OECD aber derzeit die Innovationstreiber in den meisten Volkswirtschaften.

In der Mittelklasse ist zudem der Wettbewerb stärker, weshalb die EU-Osterweiterung, die Österreichs Industrie beflügelte, Italien unter Druck brachte. Hinzu kommen hausgemachte Probleme. In den globalen Rankings zu Unternehmerfreundlichkeit (Bürokratie) schneidet Italien regelmäßig schlecht ab. Welche Auswege bieten die Parteien an?

Kehrtwende

Der Euro-Exit ist es nicht mehr. Noch vor wenigen Monaten hat die Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo ein Euro-Referendum gefordert. Die Partei hat inzwischen eine Kehrtwende vollzogen. Auch Silvio Berlusconi will von seinen früheren Plänen, eine Parallelwährung einzuführen, nichts mehr wissen. "Im Wahlkampf will man seriöser rüberkommen, nicht wie der Schreck des Establishments", sagt Thomas Fazi, der sich als Autor zahlreicher Bücher ("The Battle for Europe") mit den ökonomischen Herausforderungen Italiens beschäftigt, zu den Motiven für die Kehrtwende. Dabei seien die Probleme Italiens die gleichen geblieben, so Fazi.

Die Erholung findet bisher vor allem in der Exportindustrie statt. Die vielen kleinen mittelständischen Unternehmen und die Mehrheit der Bevölkerung spürten davon wenig. Italien ist im Vergleich zu Österreich und Deutschland nämlich viel weniger von seiner Exportwirtschaft abhängig. Der Inlandskonsum spielt eine größere Rolle, und der entwickelt sich schleichend, weil die Einkommen großer Teile der Bevölkerung seit Jahren stagnieren oder zurückgehen.

Prekariat auf dem Vormarsch

Dort, wo die Erholung eingesetzt hat, bleibt die Entwicklung nicht ohne Schattenseiten. Ende 2014 wurde in Italien eine umfassende Arbeitsmarktreform durchgeführt. Unternehmen wurde die Kündigung von Arbeitnehmern erleichtert, sie können nun einfacher befristete Verträge mit Angestellten abschließen. Das sollte den Arbeitsmarkt flexibler gestalten. Viele Unternehmen hatten bis dahin nur zögerlich Mitarbeiter aufgenommen, weil sie fürchten mussten, diese nicht mehr loswerden zu können.

Seit Verabschiedung des Gesetzes wurden 1,4 Millionen neue Jobs in Italien geschaffen. Die Reform wirkt also. Die Kehrseite: Mehr als 800.000 davon sind befristete Arbeitsverträge. "Prekäre Arbeitsverhältnisse sind auf dem Vormarsch", sagt Fazi, viele der neugeschaffenen Jobs seien sehr schlecht bezahlt.

Berlusconi will mit einer Steuersenkung das Wachstum ankurbeln und damit die Probleme des Landes lösen. Italien soll aus der Misere herauswachsen. Die Sozialdemokraten wollen mehr Geld ausgeben und so der Wirtschaft aufhelfen. Die Fünf-Sterne-Bewegung forciert eine Art Grundeinkommen, das gegen Armut helfen soll. Die Konzepte zur Finanzierung sind schwammig. In der Eurozone gelten strikte Regeln dafür, wie sehr sich ein Land weiter verschulden darf. Die Vorschläge der Parteien werden laut Fazi die tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Italiens nicht lösen können.

Land der Gegensätze

Die Komplexität der Lage wird noch dadurch verschärft, dass sich Italien keineswegs einheitlich entwickelt hat. Laut Analysen des Internationalen Währungsfonds hat sich für Pensionisten wenig geändert über die vergangenen Jahre. Wohlstandsverluste gab es vor allem für jüngere Arbeitnehmer. Zu Jung und Alt kommt noch ein scharfer Gegensatz zwischen Reich und Arm dazu.

Italien ist ja ein wohlhabendes Land, die Zahl der Superreichen mit einem Vermögen von über 50 Millionen US-Dollar hat sich über die vergangenen Jahre trotz der Krise deutlich erhöht. Das zeigen die Berichte über die globale Vermögensverteilung der Credit Suisse, die einmal im Jahr veröffentlicht werden. Zugleich ist Italien aber das EU-Land mit der höchsten Armutsgefährdung. Rund 18 Millionen Menschen sind betroffen. Das sind laut EU-Statistikbehörde drei Millionen mehr als noch vor der Wirtschaftskrise.

Wenig Wachstum, miserable Produktivitätsentwicklung, prekäre Beschäftigung, Armut und soziale Gegensätze: Wer immer Italien regieren wird, die Herausforderungen sind gewaltig.

Sicher ist, dass der politische Spielraum für die Akteure begrenzt bleibt. Zurzeit sieht es ja so aus, als gelinge es der Regierung nicht einmal, die Fabrik in Riva presso Chieri zu retten. (András Szigetvari, 1.3.2018)