Zeigt jenen lebensverändernden Moment, der einen für immer fesseln kann: Tanja Paar.

Foto: Pamela Rußmann

Tanja Paar, "Die Unversehrten." € 17,90 / 160 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck, 2018

cover: haymon

Mit Fortschreiten der Geschichte kann man sich immer weniger des Eindrucks erwehren, dass Tanja Paars famoser Debütroman eigentlich nicht Die Unversehrten heißen sollte, sondern "Die Versehrten". Denn keine ihrer drei Hauptfiguren kommt auch nur annähernd unversehrt davon. Im Gegenteil: Alle werden von Verwicklungen und Verwerfungen erfasst, an deren Entstehung sie rege mitgemischt haben, die ihnen aber ein gleichgültig austeilendes Schicksal aus der Hand genommen und gegen sie gewendet hat.

Und vielleicht liegt auch genau hier der Hinweis verborgen, dass es mit dem Titel seine Richtigkeit hat? Auch der griechische Tragödiendichter Aischylos sprach die rasenden Rachegöttinnen der antiken Mythologie, die Erinnyen, mit einem euphemistischen Namen als "Wohlgesinnte" an. Denn vielleicht gäbe es eine Chance, die Schläge ihres Zorns zu besänftigen, wenn man sich ihnen mit freundlicher Anrede nähert?

Womöglich ist Tanja Paars Titel Die Unversehrten also ebenfalls als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen, man möge halbwegs ungeschoren davonkommen, wenn man demütig das Haupt vor dem Sturm beugt, in den man sich hineinmanövriert hat. Um im Bild zu bleiben: Violenta, Martin und Klara, die Tanja Paars Protagonistentrio stellen, säen Wind und ernten Sturm. Und zwar ganz gewaltig. Doch erst verzetteln sie sich wie alle anderen im erst heiteren, dann zunehmend zermürbenden Alltag ihrer Beziehungen. Sie lieben sich und lügen ein bisschen, stellen sich naiver, als sie sind, tun, als ob Dinge, die sie geplant haben, Zufall wären, und werfen sich wechselweise Klötze zwischen die Beine.

Sie lieben ihre Kinder, leiden unter Verlustängsten und möchten es dem anderen heimzahlen, wenn sie sich gekränkt fühlen. Patchwork ist schwierig. Trennung ist schwierig. Liebesschmerz tut weh. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn es um Liebesanbahnungs- und Liebesauflösungsdinge geht.

Beziehung auf Armlänge

Tanja Paar verspinnt die drei in einen hübschen Reigen. Erst lieben sich Violenta und Martin – über Jahre in Fernbeziehung zwischen Bologna und Berlin mit Wochenendtreffpunkt München. Beiden passt "die Beziehung auf Armlänge", und nach Abschluss ihrer Studien ist ein gemeinsames Leben in einem noch festzulegenden Land geplant. Doch dann kommt dem Medizinstudenten Martin, den damals "jede haben will" und der auch gern zugreift, Klara dazwischen, und bald weiß er, dass er mit ihr "den Rahmen seiner Vereinbarung mit Vio längst überschritten hat".

Klara wird schwanger, Martin kann sich nicht entscheiden, Vio verlässt ihn. Das ist die erste Rochade, die Tanja Paar mit ihren Figuren vollzieht. Es folgen zehn Jahre Familienleben von Martin, Klara und Tochter Christina, bis Vio wieder auftaucht, vermeintlich zufällig, doch eigentlich mit fix gefasstem Plan. Ein Besserer ist ihr in der Zwischenzeit nicht begegnet. Mittlerweile ist sie Ende 30, will und gewinnt Martin zurück – als Partner und Kindesvater in spe. Klara hat zwar in der Ehe mit Martin längst resigniert, doch der Schmerz des Betrugs taucht sie in einen Furor, der sie die ganze Klaviatur eines übers gemeinsame Kind ausgetragenen Manipulations-, Rache- und Missgunstfeldzugs entfesseln lässt.

So ist das Setting. Es könnte banal sein. Doch das ist es nicht. Denn die frühere langjährige STANDARD-Redakteurin Tanja Paar führt in ihrem ersten Roman ihre Figuren stilsicher in eine Tragödie griechischen Ausmaßes. Hart sind die Schläge, die sie ihnen zuteilt, und hart der Blick, mit dem sie ihnen folgt, wie sie da zunehmend verzweifelt am Haken einer verfahrenen Geschichte zappeln, die auch noch auf der letzten Seite eine weitere Volte nimmt und sehr kühn offen ausgeht.

Schuld trägt jeder und jede, und alle büßen aufs Elendste, übernehmen Verantwortung und strampeln sich trotzdem nicht annähernd frei. Das Baby von Violenta und Martin stirbt. Man erfährt es gleich im Präludium und ist doch überrascht, auf welche Weise es dann im Lauf der Geschichte passiert. "Und das Kind war glühend in ihren Händen, siedend heiß, obwohl die Luft kalt war und der Wind ihr Tränen in die Augen trieb. Also sah sie nur verschwommen, wie es ihr mit einem Satz aus den Armen sprang zu den Schwänen. Mit weit aufgerissenen Augen blauen Augen und einem roten Gesichtchen, weil es ja so heiß war, das Kind, rot glühend. Und fiel zischend ins Wasser wie ein Stück Blei."

Was ist das? Ein Mord, eine Tötung im Affekt, ein Unfall? Paar lässt es offen wie so vieles in diesem Roman, der seine Figuren so erbarmungslos in Dilemmata führt und ihnen doch mit Respekt beim Zittern und Verzweifeln zusieht. Das tote Kind ist eine Chiffre für den lebensverändernden Moment, der – wenn er da ist – erst einen so beiläufig zufälligen Charakter haben und einen dann doch für immer fesseln kann. Es geht in diesem eindringlichen szenischen Roman um Rache und Vergebung, ums Lieben und Hassen, um die Macht der Erinnerung und darum, wie es sich anfühlt, über sich selbst zu erschrecken. (Julia Kospach, Album, 25.2.2018)