Navid Kermani, "Entlang den Gräben". € 25,70 / 423 Seiten. C. H. Beck, München 2018

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Vom Kaspischen Meer ist es nicht mehr weit nach Teheran.

Foto: Reuters / Morteza Nikoubazl

Von Schwerin in Mecklenburg nach Isfahan im Iran sind es 5115 Kilometer. Die Kartenapplikation von Google geht von einem ausdauernden Chauffeur aus und berechnet dafür eine Reisedauer von 55 Stunden. Darunter steht der Hinweis: "Diese Route führt möglicherweise über Landesgrenzen."

Nach der Lektüre des neuen Buches von Navid Kermani liest man das mit einer gewissen Nachsicht. Es trägt den Titel Entlang den Gräben, und wenn das holprig klingt, dann könnte das auch damit zu tun haben, dass Autor und Verlag das Wort Grenzen vermeiden wollten. Aus naheliegenden Gründen: Grenzen sind häufig umstritten, sind also oft auch Gräben. Über beides muss man irgendwann drüber, Gräben oder Grenzen, wenn man wohin kommen will.

Kermani ist in 55 Tagen von Schwerin nach Isfahan gefahren, weil er die "Welt hinter den Nachrichten" kennenlernen wollte. In dieser Formulierung im Abspann des Buchs steckt ein Anspruch: Die Welt hinter den Nachrichten wäre alles das, was Kamerateams und Reportern entgeht oder wofür in den Medien kein Platz ist. Ein Buch von 440 Seiten erweckt jedenfalls in seiner äußeren Gestalt den Eindruck, es könnte gewisse Defizite in der Informationslandschaft aufwiegen.

Allerdings muss man nur ein paar Tage in die Fahrt von Navid Kermani hineinlesen, um zu begreifen, dass sich die Sache komplizierter verhält. Das Motiv für seine Reise ist unmittelbar einsichtig: Er möchte der vielfältigen Welt, die er in seiner Heimatstadt Köln in seinem "Viertel hinterm Bahnhof" erlebt, auf die Spur kommen.

Wenn er sich nach Osten auf den Weg macht, dann begibt er sich aber auch auf die Flüchtlingsroute, die vor allem 2015 nach Österreich und Deutschland führte, mit Ausgangspunkten in Syrien oder Afghanistan. Das östliche Europa, das Kermani aufsucht, hat aber wiederum mit diesen Erfahrungen nicht viel zu tun, denn er lässt Mazedonien gleichsam westlich liegen und wählt eine Route, die eher von den Ereignissen des Jahres 2014 inspiriert ist. Damals annektierte Russland die Krim und löste damit eine geopolitische Krise aus, zwischen deren Gräben sich Kermani vornehmlich bewegt.

In der literarischen Straffung, die für das Buch vorgenommen wurde, ist Kermani knapp zwei Monate unterwegs. Er fährt von Polen ins Baltikum, durchquert Weißrussland und die Ukraine, muss dann nach Moskau fliegen, um auf die Krim zu kommen, verlässt Russland über Tschetschenien und kommt an die georgisch-ossetische Waffenstillstandslinie (die einen Zustand anzeigt, der für den Donbass noch nicht gefunden ist), fährt mit dem Nachtzug nach Baku, findet zwischen Armenien und Aserbaidschan neuerlich eine Waffenstillstandslinie und gelangt ans Kaspische Meer, von wo es nicht mehr weit nach Teheran ist. Die Reise ist bestens organisiert, was man daran erkennt, dass er überall auf Gesprächspartner trifft, mit denen die Zusammenkunft verabredet ist. Es sind Intellektuelle, Kulturschaffende oder Vertreter einer NGO wie in Armenien, wo er Pink Armenia besucht, eine Organisation, die in einem sehr konservativen Land für die Rechte von LGBT-Menschen kämpft.

Die gute Organisation der Reise (größere Teile fanden im Auftrag des Spiegel statt) ist für das Buch ein Vor- und ein Nachteil zugleich. Der Vorteil zeigt sich darin, dass Kermani immer schon das notwendige Wissen im Gepäck hat, um mit seinen Gewährsleuten auf Augenhöhe zu reden – einer der größten Vorzüge von Entlang den Gräben ist ohnehin, dass es mehr eine Geschichtserzählung als eine Gegenwartsreise ist.

Kermani, der prototypische interkulturelle Intellektuelle, kann jede (teil)nationale Geschichtskonstruktion locker durchschauen, und so wird sein Reisebericht zu einem großen Fleckenteppich der Relativierungen und damit auch wieder sehr eurozentristisch, woran aber wiederum kein Weg vorbeiführt, denn dies ist ein sehr deutsches Buch für sehr deutsche Leser.

Als nachteilig erweist sich die exzellente Logistik für Kermani vor allem auf der Ebene, die das Eigentliche am Reisen ausmacht: Unerwartetes wird man hier nicht finden. Die "Welt hinter den Nachrichten" entzieht sich, denn im Grunde sind das dann doch 55 Reportagen, die über solide journalistische Arbeit nicht hinausgehen.

In Aserbaidschan trifft Kermani auf eine investigative Kollegin, die sich mit Korruption in dem autokratischen System auseinandersetzt. Es ist einer der Momente in dem Buch, in dem etwas anklingt, was für die "Gräben" der Gegenwart wahrscheinlich relevanter wäre als die Überwindung der einen oder anderen Waffenstillstandslinie. Das (abgezweigte) Geld ignoriert nämlich die Gräben ohne Probleme, von denen Kermani in bester bildungsbürgerlicher Manier eine detaillierte Skizze macht, dabei aber doch nie "hinter" die Nachrichten gelangt. (Bert Rebhandl, Album, 24.2.2018)