Die Kognitionswissenschafterin Monika Schwarz-Friesel will Antisemitismus nicht unter andere Vorurteilssysteme subsumieren.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Wie verbreitet ist Antisemitismus in Europa heute noch?

Schwarz-Friesel: Sehr weit. Seit über zehn Jahren sammle ich Zuschriften an israelische Botschaften und am Zentralrat der Juden in Deutschland. Anhand von diesem Material sieht man, dass die Mehrzahl der Schreiber aus der mittleren Gesellschaft kommt. Nur etwa drei Prozent sind Rechtsradikale oder Neonazis. Mehr als 60 Prozent sind gebildete Menschen, die sogar ihren Namen und ihre Anschrift angeben.

STANDARD: Sie erforschen Antisemitismus im Netz. Verstärkt das Internet den Hass?

Schwarz-Friesel: Es gab hier einen enormen Anstieg: 2007 haben wir eine Stichprobe von tausend Internetkommentaren zu jüdischen Themen in der deutschen Mainstreampresse betrachtet. Damals haben wir 7,5 Prozent an antisemitischen Äußerungen gefunden. Zehn Jahre später waren es über 36 Prozent. Es hat sich also mehr als verdreifacht. So ist es in der ganzen Welt: Auch der Campus-Antisemitismus hat unter linken Studierenden sehr stark zugenommen. Wir müssen nicht in die Schmuddelecke der Neonazis oder der Rechtspopulisten schauen. Es gibt viel Judenhass in allen Gesellschaftsschichten.

STANDARD: Warum hat der Antisemitismus so stark zugenommen?

Schwarz-Friesel: Mit der Zweiten Intifada hat ein Tabubruch stattgefunden. Auch in der Medienlandschaft ist eine Israelfeindschaft mitgetragen worden, die sich im Laufe der Jahre verfestigt hat. Hinzu kommt, dass soziale Medien an Bedeutung gewonnen haben. Es sind nicht nur die wichtigsten Informationsspeicher, sondern viele leben geradezu in ihren Facebook- oder Instagram-Accounts. Diese werden zu Echokammern: Man hört nur das, was man hören will und was zum Glaubenssystem passt. Wenn jemand sich in Diskussionen in Kommentarbereichen einschaltet und darauf hinweist, dass etwas antisemitisch ist, wird diese Person auf das Übelste beschimpft und rausgemobbt. Auch liest man fast täglich, Israel sei ein Apartheidsstaat, er folge dem Gesetz der Rache. Das ist klassischer Verbalantisemitismus. Der menschliche Geist ist so programmiert, dass er diese Negativbilder speichert.

STANDARD: Man könnte auch behaupten, Echokammern hat es früher am Stammtisch genauso gegeben.

Schwarz-Friesel: Die Quantität ist eine ganz andere. Es sind Millionen, die online erreicht werden. Im Internet finden wir zwar die gleichen antisemitischen Texte, die wir auch in der realen Welt finden, aber dadurch, dass das Internet immer mehr Relevanz bei jungen Leuten gewinnt, ist die Gefahr eines Normalisierungsprozesses sehr groß. Auch die Intensität und die Schnelligkeit der Verbreitung von Antisemitismus ist im Internet ungleich höher und intensiver.

STANDARD: Wie zeigt sich Judenfeindschaft heute?

Schwarz-Friesel: In politischen Reden oder in den Medien liegt der Fokus immer noch auf dem rechtsextremen Antisemitismus. So kann man diesen aber nicht bekämpfen. Antisemitismus war immer ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft, und heute wird er auch bedeutend von links geprägt, zum Beispiel von der BDS-Bewegung. Die Wahrheit ist: Der Holocaust war nicht die Zäsur, von der man gehofft hat, er würde dem Antisemitismus den Boden entziehen.

STANDARD: Ist Antisemitismus ein europäisches Kulturgut?

Schwarz-Friesel: Ja. Der Begriff Kulturgut ist natürlich positiv konnotiert, aber es ist auf jeden Fall eine kulturelle Kategorie. Im sprachlichen Antisemitismus sehen wir eine unglaubliche Gleichförmigkeit der Texte, egal ob sie aus der rechten oder linken Ecke kommen. Es ist die gleiche Auswahl an Stereotypen, die wir schon im frühen Mittelalter hatten.

"Antisemitismus ist eigentlich langweilig, weil er sich immer wiederholt. Das macht ihn natürlich nicht weniger gefährlich."
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STANDARD: Welche Stereotype sind das?

Schwarz-Friesel: Juden seien rachsüchtig und gierig. Sie wollen Geld scheffeln und die Welt beherrschen. Das sind Konstanten, die wir seit Jahrhunderten immer wieder finden. Es ist vor allem eine Konzeptualisierung, die wir immer wieder sehen: Juden sind das Böse und das Übel in der Welt.

STANDARD: Woher kommt das?

Schwarz-Friesel: Die Wurzel liegt im frühen Christentum. In einem Paulus-Brief findet sich die Phrase, dass Juden die Feinde der Menschheit seien. In den letzten Jahren haben wir in Deutschland viele antiisraelische Demonstrationen gehabt, wo wir auf den Plakaten genau diese Phrase wiederfinden: "Israel ist der Feind der Menschheit." Überall, wo wir hinsehen, finden wir die gleichen Versatzstücke. Antisemitismus ist eigentlich langweilig, weil er sich immer wieder wiederholt. Das macht ihn natürlich nicht weniger gefährlich. Es ist erschreckend, dass die Menschheit nach Auschwitz nichts gelernt hat.

STANDARD: Wie konnte sich das bis heute halten? Wenige kennen wohl den Wortlaut der Briefe von Paulus ...

Schwarz-Friesel: Es ist unser kollektives Gedächtnis. Man muss sich nur die Texte der großen europäischen Denker ansehen: Luther, Hegel, Voltaire. Oder Grimms Märchen: Sie haben antisemitische Inhalte, die haarsträubend sind. Eine Geschichte heißt Das von den Juden getötete Mägdlein. Über Jahrhunderte waren die die üblen Verbrecher Juden – ob bei Oscar Wilde oder bei Charles Dickens. Wir haben eine Kontinuität über die gesamte Kulturgeschichte. Die Aufklärung, dass Antisemitismus so furchtbar ist, hat in Deutschland erst in den 1960er-Jahren mit den Auschwitzprozessen begonnen. Es stehen 50 Jahre Aufklärung gegen 2000 Jahre Kulturgeschichte.

STANDARD: Neu ist die Komponente, die der Staat Israel einnimmt ...

Schwarz-Friesel: Den Staat Israel gibt es erst seit 70 Jahren. Wir sehen nur eine einzige Adaption: Israel steht im Fokus der Antisemiten, egal ob sie von links, rechts oder aus der Mitte kommen. Artikuliert wird der Hass auf Israel aber mittels eines klassischen Antisemitismus, den wir seit 2000 Jahren kennen.

STANDARD: Wie unterscheidet sich Antisemitismus von anderen Diskriminierungsformen?

Schwarz-Friesel: Ich plädiere sehr dafür, Antisemitismus nicht unter andere Vorurteilssysteme zu subsumieren. Er ist nicht nur das älteste Ressentiment, sondern unterscheidet sich von anderen Vorurteilssystemen auch dadurch, dass er nicht auf induktiven Übergeneralisierungen basiert. Wenn man sich zum Beispiel Muslimenfeindschaft ansieht: Da werden bestimmte Merkmale aus muslimischen Communitys genommen und allen Muslimen übergestülpt. Es werden aufgrund von singulären Ereignissen Vorurteile entwickelt und kollektiv auf alle Muslime übertragen. Bei Judenfeindschaft sehen wir nicht ein einziges Stereotyp, das so gebildet wurde. Das sind reine Fantasien.

STANDARD: Zum Beispiel?

Schwarz-Friesel: Im arabischen Raum gibt es das berühmt-berüchtigte Stereotyp der Blutkultlegende: Es besagt, dass Juden nichtjüdische Kinder schlachten und das Blut für rituelle Zwecke verwenden. Es hat in der Geschichte nicht einen einzigen Fall davon gegeben. Trotzdem gibt es das Stereotyp seit 2000 Jahren. Oder auch die Protokolle der Weisen von Zion: eine reine Erfindung. Auch richten sich die Vorurteile nicht gegen ein bestimmtes Merkmal der Gruppe, sondern gegen die jüdische Existenz an sich. Ich habe tausende Internettexte analysiert, wo gesagt wird: Wenn Juden endlich von dieser Erde verschwunden sind, dann ist diese Welt ein besserer Ort. Das ist typisch für Judenfeindschaft, und es ist unikal. Das macht es so gefährlich.

"Vorurteile richten sich nicht gegen ein bestimmtes Merkmal der Gruppe, sondern gegen die jüdische Existenz an sich."

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STANDARD: Warum gehen die Wogen bei Israel und Antisemitismus immer derart hoch?

Schwarz-Friesel: Wir können Antisemitismus ohne seine starke emotionale Basis überhaupt nicht verstehen, erklären und auch nicht bekämpfen. Eigentlich ist Antisemitismus eine Emotionskategorie für sich. Es findet eine sehr starke Abwehr statt, verbunden mit Hass und Argwohn. Antisemitismus ist ein Glaubenssystem: Antisemiten glauben so unerschütterlich an ihre Konzeptualisierung, wie sie daran glauben, dass es Erde und Mond gibt. Mit Fakten und Argumenten kommt man bei ihnen nicht weit, weil eine derartige emotionale Inbrunst im Spiel ist. Das ist die zentrale Komponente.

STANDARD: Warum ist das so?

Schwarz-Friesel: Die Antisemiten ziehen sich auf eine Opferrolle zurück, obwohl sie selbst der Mainstream sind. Neue empirische Forschungsergebnisse von mir zeigen, dass dieses berühmte Meinungsdiktat, man dürfe Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit abgestempelt zu werden, de facto nicht existiert. Können Sie sich erinnern, dass in Österreich jemals irgendwer von Format gesagt hat: Man darf Israel nicht kritisieren, denn sonst ist man antisemitisch? Es wird aber immer wieder und wieder behauptet. Es ist eine Rechtfertigungsstrategie, die nur von denen verwendet wird, die sich tatsächlich antisemitisch äußern. (Vanessa Gaigg, Oona Kroisleitner, 21.2.2018)