Opulentes Setting mit Kameramann: Anne Müller, Paul Behren.


Foto: Thomas Aurin

Die fünfte Stunde dieses kurzweiligen Theaterabends am Hamburger Schauspielhaus ist gerade angebrochen, da reißt sich die Aufführung endgültig los von den Pflöcken des Sinnzusammenhangs. Da steht sie nun, wirft Kusshände ins Publikum, dreht Pirouetten, schneidet Grimassen und macht einfach, was sie will. Und kein Regisseur weit und breit, der sie wieder einfangen wollte.

In der letzten Stunde lässt es Frank Castorf einfach laufen. Läuft ja. Seine fabelhaften Schauspieler sind auch schon vorher mit Übermut ans Werk gegangen, aber da gab es ja so etwas wie einen Weg, auf den sie zurückkehren konnten, wenn sie sich verlaufen oder in die Büsche geschlagen hatten. Jetzt schaut's doch eher nach Sackgasse aus. Castorf lehnt sich entspannt zurück: Ist doch toll, was ihr da macht! Irgendwann dreht er einfach das Licht ab, und alle liegen sich erschöpft und glücklich in den Armen.

Richtig hell wird es ohnehin selten. Die Aufführung liebt das Dunkle, und sie versäumt nicht, aus der Schatztruhe der geflügelten Worte allerlei Einschlägiges hervorzukramen: von Gustav Mahler ("dunkel ist das Leben, ist der Tod") bis Juri Gagarin ("dunkel ist der Weltraum, Genossen, sehr dunkel").

Warum hat sich Aleksandar Denic überhaupt die Mühe gemacht, eine derart realitätsverliebte und detailbesoffene Bühnenlandschaft zusammenzubauen: ein Zeitungskiosk neben einem U-Bahn-Abgang, und darüber eine riesige Camel-Leuchtreklame in schönstem New Yorker Retro-Geschmack? Wo sie doch meist nur düster im Schummerlicht steht und zum Aufhängen von Videoleinwänden dient.

Über Live-Video verfolgt man, was sich tief im Hintergrund der Bühne oder in deren Kellergelassen abspielt. Im Kesselraum eines Ozeandampfers schippen rußgeschwärzte halbnackte Männer unentwegt Kohlen ins Feuer und singen: "Show me the way to the next whisky bar". In einer Luxuskabine langweilen sich zwei Blondinen und haben doch Sehnsucht nach echtem Proletarierschweiß. Irgendwann hat Dionysos im zyklamfarbenen Anzug seinen großen Auftritt, und im Kiosk, wo einer gerade seine Hanfplantage wässert, wird ein Gorilla erschossen.

In dessen Kostüm steckt eine der beiden Blondinen, die soeben lautstarken Unmut von MeToo-Aktivistinnen erregt hat, weil sie den Regiedoktor, mit dem sie doch so schöne TV-Filme gedreht hat, wegen des bisschen Vergewaltigung ("runterschlucken, aufstehen!") doch nicht unglücklich machen möchte.

Was gespielt wird? Den Titel Der haarige Affe liefert ein Stück von Eugene O'Neill, aber der amerikanische Dramatiker ist mit zwei weiteren, hierzulande eher unbekannten Arbeiten am Start: Kaiser Jones und Der große Gott Brown. Die Bibel und Arthur Rimbaud steuern weitere Materialmengen bei zur Formulierung der Fragen, was der Mensch eigentlich ist, wohin er gehört und wie viel er dort zählt, wo er glaubt, er gehöre dazu.

Frank Castorf schaut dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang mal wieder tief in die Augen, aber Antworten auf seine Fragen findet er dort nicht – weil er sie gar nicht sucht. Vielleicht ist das der tiefere Grund, warum einen das Castorf-Theater, obwohl es so anstrengend und mitunter auch ziemlich wirr ist, so heiter stimmt: weil es ihm auf die B-Note ankommt und nicht auf die Botschaft. Die Performance muss stimmen, dann stellt sich jener Sog, jene Stimmung ein, die dieses Theater so einzigartig macht. (Oswald Demattia, 20.2.2018)