Dass mein Nachbar mich für verrückt hält, ist nicht weiter schlimm. Weil er damit a) nicht allein ist und b) in einer anderen Welt lebt. Der gute Mann ist schließlich Pensionist. Davor war er Beamter. Allerdings schob er da alles andere als einen gemütlichen Schreibtischjob – als Wärter im Sonderstrafvollzug. Also mit "Kundschaft", die "nicht wegen Taschen- und Hendldiebstahl" einsaß. Berufliche Absicherung hin, stringenter Lebens- und Karriereverlauf her: Ich hätte keine Sekunde tauschen wollen – oder können. Und ich bewundere ihn, weil er nicht zum Zyniker oder Menschenfeind geworden ist. Aber das ist beinahe off topic. Beinahe, weil mein Nachbar – berufs-, nicht spaßbedingt – eine gewisse Grundfitness brauchte. Mental wie physisch. Doch Kraft und Ausdauer kommen nicht mit dem Gehaltsscheck: Mein Nachbar weiß, was Training ist und kann. Trotzdem hält er mich für verrückt – und macht kein Hehl daraus. Wir lachen dann beide.

Foto: Thomas Rottenberg

Letztens trafen wir einander auf dem Gang. Er beim Blumengießen, ich am Zahnfleisch. "Was hast denn diesmal wieder gemacht?" Ich röchelte: "1:1:40". Normalerweise kann ich mich halbwegs in die Wissenswelt meiner Zuhörer hineinversetzen – aber wenn die Laktatparty noch nicht abgeklungen ist, ist das "know your audience" mitunter nicht so präsent. Mein Nachbar weiß das: "Und jetzt bitte in einer Sprache, die ich verstehe?" Äh. Klar. Sorry. Also: "40 Minuten lang im Wechsel und ohne Pause eine Minute Vollgas und eine locker. Intervalle also. Hart – und alle gleich schnell. Die letzten tun dann richtig weh." Ein erstaunter Blick: "Und das macht Dir Spaß?" Ich verstand die Frage nicht. "Na ja: Ich habe mittlerweile kapiert, dass dir Laufen Spaß macht. Aber das da klingt grausam – und so schaust du auch grad aus. Also: Wozu soll so was gut sein? Renn doch einfach!"

Foto: Screenshot/ Thomas Rottenberg

Der Mann hat vollkommen recht: Natürlich ist Laufen auch Laufen, wenn es nur Laufen ist. Wenn man einfach losrennt. So schnell und lang und weit es Spaß macht. Denn in (fast) jedem Fall ist jede Form von Bewegung gesünder, als das, was zwei Drittel der Bevölkerung tun, nämlich am Triathlon aus Sitzen, Fressen & Fernsehen teilzunehmen. Ein Drittel der Österreicherinnen und Österreicher (die Zahlen sind seit Jahren in etwa gleich) interessiert Sport weder aktiv noch passiv. Ein weiteres Drittel ist sportlich – aus der TV-Zuseher-Perspektive.

Für Bewegung und Eigenaktivität erreichbar ist der Rest. Und in diesem Segment spannt sich der Bogen dann von Spazierengehen bis zu Extremklettern, Abfahrtrennengewinnen und professionellem Wasweißdennich. Schon zwischen dem, was Profi- oder Eliteathleten und "Hobetten" wie ich auf die Straße bringen, liegen Welten. Dennoch hat niemand nach "unten", also über Langsamstläufer, Nordic Walker oder sonst wen, zu spotten. Nach "oben" ätzen ist in jedem Fall okay. "Du spinnst doch", lacht mein Nachbar, stellt die Gießkanne hin und macht sich auf den Weg: Einmal in der Woche wandert er im Wienerwald. "Man will ja auch als Pensionist nicht einrosten." Die Frage, wozu die Intervallquälerei gut sei, bleibt offen.

Foto: Thomas Rottenberg

Später am gleichen Tag. Im Vorraum des Yoga-Studios. Einer der Lehrer plaudert mit einer Kundin: "Dazu kann dir der Tom vielleicht mehr sagen." Die Dame im Frauenlauf-Shirt hat eine Frage: "Ich laufe seit eineinhalb Jahren. Mittlerweile dreimal pro Woche. Immer 14 Kilometer. Mein Ziel ist der Halbmarathon beim VCM. Aber seit Wochen hab ich das Gefühl, dass nix weitergeht. Was mache ich falsch?" Erwartungsvoller Blick. Soll ich jetzt ein Kaninchen aus dem Hut ziehen? Einmal Patentrezept bitte.

Nur: Das gibt es nicht. Weil sie nix falsch macht. Sie läuft und hat Freude daran. So lange sie die hat, steht es niemandem zu, ungefragt herumzudoktern. Aber irgendwann kommt eben der Punkt, wo man mit "einfach Laufen" weit, aber nicht weiter kommt. Wenn man dann mehr möchte, landet man irgendwann bei 1:1:40 und Ähnlichem. Weil beim Laufen, eigentlich bei jedem Sport, ab einem gewissen Level nicht "mehr" zu mehr führt, sondern "anders".

Foto: Thomas Rottenberg

Der Grund dafür heißt Routine. Weil (laienhaft formuliert) der Körper ein fauler Hund ist, der schnell lernt: Wenn er weiß, was kommt, stellt er sich drauf ein. Läuft auf Autopilot. Tut nur, wovon er weiß, dass es nötig ist – aber kein Alzerl mehr. Er lernt nicht mehr dazu und haushaltet mit den Ressourcen so gut, dass es sich genau ausgeht. Im Grunde hochökonomisch und schlau. Außer man will sich und die eigene Leistung steigern.

Da muss man ums Eck denken – und dann wird schon mit einem Minimum an Struktur aus "einfach laufen" rasch "Training": Mit ein bisserl Variieren (es muss ja nicht gleich 1:1:40 sein), erreicht man mehr, als wenn man dreimal pro Woche die gleiche Distanz auf dem gleichen Level läuft.

Foto: Stefan Jeschke

Ich bin kein Auskenner. Darum reichte ich die Fragen meines Nachbarn und der Dame aus dem Yogastudio an jene Expertin weiter, bei der ich gelernt habe, was der Unterschied zwischen Laufen und Laufen ist: Sandrina Illes. Sie ist unter anderem amtierende Halbmarathon-, 10.000-Meter- und Duathlon-Staatsmeisterin sowie EM-Bronzemedaillengewinnerin im Duathlon (und WM-Fünfte). Außerdem Lauf-, Gang- und Bewegungsanalytikerin, Bewegungsanalytik-Doktorandin und Betreuerin von Ausdauersportlerinnen und -sportlern der unterschiedlichsten Levels.

Ich erreichte sie an einem der letzten Tage ihres zweiwöchigen Höhentrainings im Norden Ruandas "in der Nähe der berühmten Berggorillas". (Ein ausführlicherer Bericht über diese Reise auf ihrer eigenen Seite).

Foto: Stefan Jeschke

Das Thema "Varianz", schrieb sie, sei "toll und wichtig". Eben weil meine Laienaussagen nicht ganz falsch sind: "Läuft man zum ersten Mal schneller als gewohnt (sei es ein fixes Intervalltraining, ein Fahrtspiel nach Gefühl im Wald oder ein gleichmäßiger oder progressiver Tempolauf nach dem Aufwärmen), lernt der Körper eigentlich so ziemlich alles: Lauftechnik in ungewohnten Geschwindigkeitsbereichen, Atemfrequenz, Herz-Kreislauf-Aktivität, Energiebereitstellung, vermehrte muskuläre Ansteuerung, Abbau von Abfallstoffen, Schnelligkeit …"

Die Liste ist ist lang: "Variation bringt ja nicht nur Leistungsgewinn, sondern bietet auch dem aktiven (Muskeln) und passiven (Gelenke, Knochen, Sehnen) Bewegungsapparat unterschiedliche Reize. Die Gelenksstreckung ändert sich ja mit dem Tempo, und so werden alle Strukturen etwas vielseitiger belastet."

"Hie und da ein paar schnelle Bahnrunden sind für Hobbysportler sinnvoll, aber sicher kein Muss, wenn es keinen Spaß macht. Wenn man kein Freund von gesteuertem Intervalltraining ist (okay, auch sonst :D), bietet es sich an, im Hügeligen zu laufen: Die Natur gibt da die unterschiedlichen Reize und Tempobereiche vor. Man muss nur vorsichtig sein, nicht zu abrupt zu steigern. Bergab kann schlechte Lauftechnik schnell zu Überlastungen führen."

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Lernen kann und soll auch der Fuß: "Auch das Nutzen unterschiedlicher Schuhmodelle oder kurzer Barfußstrecken gehört in die Kategorie Variation. Man sieht schnell, wo Stärken und Schwächen liegen."

"Prinzipiell kann man durch unterschiedliche Trainings (Untergrund, Höhenmeter, Tempobereiche, Schuhwahl) sehr viel Vielfalt erreichen, ideal ist es natürlich, das Laufen durch (laufspezifisches) Krafttraining zu ergänzen. Traut man sich über Neues drüber, bereichert das nicht nur körperlich, sondern auch mental: neue Erfahrungen, neuer Stolz über Erreichtes. Was noch vor Wochen unerreichbar schien, geht. Zum Beispiel: 'Das erste Mal auf den Kahlenberg gelaufen und die schöne Aussicht genossen.'"

Nebenbei: Dass ich diesen Sonntag die Longjog-Gruppe des Weekly Long Run von Ausdauercoach & WeMove auf den Kahlenberg führte, war Zufall – aber das Bild passt trotzdem: Für einige war es der erste Lauf hier herauf. Aber auch die "alten Hasen" strahlten: Mal was anderes – variatio delectat. Mehr dazu gibt es hier.

Foto: Thomas Rottenberg

Zurück zu Sandrina: "Egal was nun konkret die Inhalte sein mögen: Gutes Aufwärmen ist Pflicht. Gerade, wenn man nicht jeden Tag Sport macht und erholt in die Aktivität geht, fühlt sich ein zu schnelles Anfangstempo machbar an, überfordert aber Gelenke und Sehnen. 15 Minuten sehr lockeres Plaudertempo zu Beginn, eventuell mit vorangegangenem Rollen mittels Faszienrolle sind da empfehlenswert. Danach kann man getrost einen Tempolauf nach Gefühl, ein hügeliges Fahrtspiel, ein Intervalltraining machen."

Und dann kam sie zur Grundfrage zurück: "Wer dreimal die Woche die besagten 14 Kilometer locker und flach rennt, könnte ja einmal in der Woche etwas anderes machen: hügelig, ein paar Steigerer, ein Tempolauf mit Ein-/Auslaufen, auch Intervalle – wenn es Spaß macht. Das reicht fürs Erste. Und wer am Ende des Einlaufens für 100 Meter barfuß unterwegs ist, trainiert sogar noch den Dämpfungsmechanismus des Fußes und lernt sukzessive mit flacheren Schuhen zu laufen."

Aber das ist dann wieder eine ganz andere Geschichte. (Thomas Rottenberg, 14.2.2018)


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