Nell Zink auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: Sie kommt aus Bad Belzig immer wieder gern in die Großstadt.

Foto: Fred Filkorn

Nein, Nell Zink selbst hat nie geraucht. Aber das nur nebenbei. Darüber reden wir erst ganz am Ende des Gesprächs – als das Aufnahmegerät schon längst wieder ausgeschaltet ist. "Bevor du rauchst", sagte damals ihre Mutter zu ihr als Zwölfjähriger, "musst du zu mir kommen, und ich bringe es dir bei, damit es bitte nicht peinlich rüberkommt, wenn du deine Zigarette falsch hältst oder husten musst etc." Mehr hat es nicht gebraucht, erzählt Zink lachend, sie hat es niemals versucht: "Ich war kein cooles Kind."

Das kann man sich gut vorstellen – und auch wieder nicht. Nell Zink sitzt auf einem Schreibtischsessel in der Einzimmerwohnung eines Freundes in Berlin-Moabit, ihre Füße liegen auf dem Heizkörper unter dem Fensterbrett, sie hält eine Tasse Tee in den Händen und schaut in den grauen Jännertag zum Fenster hinaus. Gestern Abend hatte sie eine Lesung am Potsdamer Platz und blieb gleich in der Stadt. Nikotin ist ihr dritter Roman, aber erst der zweite, der auf Deutsch erschienen ist. Vier Bücher sind in den USA in den vergangenen drei Jahren von ihr erschienen. "Es ist tatsächlich unglaublich", sagt Zink selbst dazu und auch über die Tatsache, dass 2014 mit 50 Jahren eine Erfolgsschriftstellerin aus ihr geworden ist.

Aber je länger man mit der Amerikanerin, Jahrgang 1964, redet, desto klarer wird, dass sie immer schon eine Künstlerexistenz gelebt hat. Schon das Kind, das vielleicht nicht cool war, hat Unmengen gelesen und wollte immer Schriftstellerin werden. Ihre Mutter, eine Bibliothekarin, hatte ihr nicht erlaubt, vor der Glotze zu hängen. Sie redete weniger, als sie las, konnte "schnelllesen" ("speedreading" nennt sie das) und zog erst die Bremse, als sie beschloss, sich mit dem Schreiben zu beschäftigen, weil sie begann, sich Texte in Redegeschwindigkeit laut vorzulesen. Das alles erzählt sie in einem nicht akzentfreien, aber wunderbaren Deutsch, das sie 1983 nach nur zehn Monaten Tramptour durch Deutschland und anschließendem Aufenthalt in Tübingen, wo sie später 13 Jahre leben sollte, perfekt beherrschte, einfach weil damals niemand mit ihr Englisch sprach.

Ins Leben zurückschwimmen

Beim Lesen von Nikotin stellt sich genau der Eindruck ein, dass dieses Buch ein sehr schlauer Mensch mit äußerst regem Geist geschrieben haben muss. Der Roman ist ein Trip. "Hoffentlich gut geeignet zum Binge-Reading", sagt Zink selbst. Obwohl sie nicht, wie viele andere, der Meinung ist, dass die neuen erfolgreichen TV-Serien heute die Tradition des Romans im 19. Jahrhundert fortführen, ist Nikotin trotzdem wie eine Serie aufgebaut (ursprünglich hieß die US-amerikanische Ausgabe auch Nicotine: A Series und nicht A Novel). Es gibt eine schnelle Abfolge verschiedener Szenen mit einem Personal an Menschen, die sich in einer anarchischen Hausbesetzer-WG in Jersey City tummeln und die im raucherfeindlichen Amerika ausgerechnet ihr Hang zum Nikotin verbindet.

In dieser klugen Realsatire auf die US-amerikanische Gegenwart haben alle ihre Probleme: "Diese Figuren würden es niemals ins Fernsehen schaffen", weiß Zink über ihre Protagonisten, "höchstens in eine Reality-Show." Das trifft es ganz gut. Das Plot-Ensemble, in dem die 23-jährige Penny nach dem Tod ihres Vaters irgendwie versucht, ins Leben zurückzuschwimmen, ist ein komischer Haufen, der aber das Amerika von heute ganz gut repräsentiert: apolitische Gutmenschen, zu Geld gekommene Schamanen, kapitalistische Arschlöcher, rauchende Umweltschützer etc. und dazu eine höchst komplizierte Patchworkfamilien-Konstellation. Dazu nur so viel: Die Halbbrüder Pennys sind älter als ihre eigene Mutter, und die war zunächst die Ziehtochter ihres Vaters. Es geht also viel um Identitätsfragen. Nikotin ist ein moderner Gesellschafts-, Familien-, aber auch ein Liebesroman, denn am Schluss kommen zwei Paare zusammen. Ob sie es auch bleiben? Mehr als fraglich. Aber das ist gut so, findet Zink.

Wie schon in Mauerläufer, dem Roman, den sie 2012 eigentlich nur für den US-Autor Jonathan Franzen geschrieben hat, weil sich zwischen ihnen eine Korrespondenz über Vögel ergeben hatte, entpuppt sich die Schriftstellerin Nell Zink wieder als wahre Meisterin der Sexszenen, aber nicht nur das. In Nikotin ist sie überdies eine wahre Meisterin der Abschieds- und Sterbeszenen und auch die Meisterin einer einzigen sehr gewaltigen Gewaltszene, die ihr, wie sie sagt, "genau so gelungen ist, wie ich das vorhatte". Um so über das Sterben schreiben zu können wie Zink, muss man es hautnah miterlebt haben. Das ist keine Frage, die man ihr stellt, trotzdem antwortet Zink und sagt: "Leider ja", aber die Art, wie sie das sagt, lässt einen nicht mehr weiter nach genauen Umständen fragen. Beide ihrer amerikanischen Eltern sind mittlerweile tot. Sie nimmt ihre Füße vom Heizkörper, steht auf und macht frischen Tee.

Der Nell-Moment

Dieser neue Nell-Zink-Roman stellt also die Frage, wie wir leben und lieben wollen. Kein Wunder, dass sich die Autorin selbst mit diesen Fragen lange und intensiv beschäftigt hat. Und damit kommen wir thematisch endlich in die brandenburgische Kleinstadt Bad Belzig, obwohl wir noch immer in Berlin sind. Am Beginn unseres Treffens an der Bushaltestelle in Moabit, Zink steht da in einem langen Mantel mit ihren graubraunen Haaren, ungeschminkt und aufmerksam. Sie muss lachen, weil sie ausgerechnet jemanden aus Wien gleich einmal in ein Kaffeehaus in Berlin-Moabit schleppen wird. Mit ihr in ein Gespräch zu kommen ist denkbar einfach, sie ist eine gute Erzählerin. Acht Stunden schreibt sie angeblich pro Tag auf einer Matratze in Brandenburg, stand über sie zu lesen, wenn nicht gerade ein neues Buch von ihr erscheint. "Ich habe wirklich viel Zeit", sagt Zink, isst ihre Sachertorte mit Schlagobers in kleinen Bissen, "ich habe keine Kinder und keinen Job."

Die Einzimmerwohnung in Bad Belzig, ein dünn besiedelter Flecken südlich von Berlin, nennt sie einen "Glücksfall", nicht nur wegen der hohen Decken und des vielen Lichts und der Nachbarn, die nur anfangs schwierig waren. In Bad Belzig allein zu leben war eine sehr bewusste Entscheidung Zinks, wie auch die Entscheidung, im Jahr 2000 aus den USA, wo sie in Virginia aufgewachsen war und dann an vielen verschiedenen Plätzen gelebt hatte und vielen verschiedenen Beschäftigungen nachgegangen war, nach Tübingen in Deutschland auszuwandern – auch um da zu promovieren.

Sie wollte immer schreiben und nicht wieder heiraten und andauernd verliebt sein in, wie sie sagt, "irgendeinen schnuckligen Kerl". Und da ist er, dieser Nell-Moment, eine Mischung aus großem Ernst und viel Humor. Sie sagt, dass sie sich für deutsche Männer nie besonders begeistern konnte. Ausnahmen gibt es, mit denen ist sie heute befreundet. Sie selbst war zweimal verheiratet und ist auch heute in einer Beziehung, aber in einer mit viel Distanz und großen Freiräumen: "Ich kann mich nicht jede Nacht mit jemandem um die Decke streiten, sein Klo putzen und ihn auch noch erotisch finden." Das wäre zu viel verlangt. Zumindest für Zink. Von ihrer Matratze in Bad Belzig aus, auf der sie bis heute ihre Bücher schreibt, behält Zink die Gesellschaft recht gut im Blick, auch die US-amerikanische.

"New York Times" statt "Facebook"

Nikotin ist ein enorm politisches Buch, und Zink würde sich schämen, etwas Nichtpolitisches zu schreiben. Das sagt sie mit Nachdruck. In die USA reist sie nicht mehr so oft, seit ihre Eltern tot sind, aber zunehmend wegen der Lesereisen. Sie liest natürlich täglich die New York Times online, die für sie immer mehr zur Jugendkultur-Plattform mutiert, hat aber kein Smartphone, auf Facebook und Instagram ist sie auch nicht, verfolgt aber zwei, drei Twitter-Feeds von Leuten, die am Puls der Zeit sind, "um darüber mitreden zu können, was in zwei, drei Tagen schon wieder kein Thema ist". Absurd, oder? Aber auch unterhaltsam! Und was sollte sie sonst machen? In Bad Belzig, der ehemaligen Stasi-Hochburg, gibt es zwar eine Kommune, aber trotzdem ist dort nicht viel los. Joggen geht sie regelmäßig in den Wald rund um Belzig, in dem es angeblich Wölfe geben soll, denen sie lieber nicht begegnen will. Sie ist gleichermaßen erstaunt und stolz, wie fit sie ist, seit sie da draußen lebt.

Und natürlich liest sie, wie schon ihr ganzes Leben lang. Weibliche und männliche Zeitgenossen aber erst, seit die gewissermaßen zur Konkurrenz geworden sind. Keine Frage: Zink liebt Klassiker. Ihre Mutter, Jahrgang 1927 und ursprünglich Sergeant der US-Marine, war nämlich nicht nur Bibliothekarin, sondern auch Feministin: Virginia Woolf, Jane Austen, die ganzen Klassiker von Frauen aus der viktorianischen Zeit, damit ist sie aufgewachsen. "Nichts allzu Modernistisches", sagt Zink, "aber frauenlastig."

Für sie war es etwas Neues, auf dem College männliche Autoren wie Dostojewski und dessen Brüder Karamasow zu entdecken. Stifter ans Herz gelegt hat ihr erst ein russischer Komponist in Karlsruhe. Sein Nachsommer – "ein überwältigendes Buch, überwältigend und langweilig!" – hat Zinks Leben verändert, sagt sie. Davor hatte sie nicht verstehen können, wie man zwei Stunden auf einer Bank im Wald sitzen kann, um Sachen zu betrachten. Erst Stifter hat ihr diese Beobachtungsgabe geschenkt.

Dicke Bücher ...

"Ich bin sehr ruhebedürftig!", sagt sie, wenn sie über ihr Leben in Bad Belzig erzählt. Auch deswegen sitzen wir inzwischen in dem stillen Zimmer ihres Freundes in Moabit, in das ein Hochbett eingebaut ist und in dem eine Menge an Kisten mit Schallplatten herumstehen, um weiter über Nikotin und ihre Arbeit zu reden. Jedes Buch von Zink ist bis jetzt umfangreicher als das Vorgängerbuch. Das freut nicht nur Zink selbst, sondern auch ihre Agentin. "Die Leute wollen dicke Bücher für ihr Geld", sagt Zink lachend. Diese dickeren Bücher bringen mittlerweile auch dickere Vorschüsse. In einem Porträt über sie hat sie einmal gesagt, dass es sich in Deutschland mit wenig Geld gut leben lässt und in den USA mit viel Geld gut überleben lässt. Wird sie, nachdem es finanziell ganz gut läuft, in die USA zurückgehen? "Nein", sagt Zink, das hat sie nicht vor. Und das hat viel mit dem deutschen Sozialstaat zu tun oder mit einem fehlenden in den USA, wo sie immer wieder erschreckende Erfahrungen macht, die sie in Deutschland nicht macht: "Dort sind wirklich viele Menschen mittlerweile ziemlich scary unterwegs, aber es ist nicht ihre Schuld", sagt sie. Außerdem – und da ist wieder so ein Nell-Moment – habe sie jetzt so viel Einkommenssteuer an die Deutschen gezahlt ... Sie wird bleiben, lacht und fragt, ob das die Frage beantwortet hat.

Nell Zink hat sich schon zu lange und gut in ihre Außenseiterrolle eingelebt, als dass ihr die Tatsache ihres – auch finanziellen – Erfolgs allzu große Sorgen bereitete. Wie sehr sie sich auch anstrengen würde, kommerziell zu sein und Mainstream zu schreiben, es würde ihr nicht gelingen: "Ich werde immer Scheiße bauen", sagt sie ganz entspannt und sieht das als eine Art Schutz vor Dekadenz. Sie weiß aufgrund ihrer bisherigen vielschichtigen Lebenserfahrungen, dass sie nicht in der Lage ist, sich anzupassen. Auch in ihrem Naturschutzaktivismus oder ihrer politischen Arbeit für die Grünen ist sie immer wieder an Grenzen gestoßen. Die Matratze auf dem Boden mit dunkelroter Bettwäsche, auf der sie die vergangene Nacht nach ihrer Lesung in dieser Moabiter Wohnung übernachtet hat, liegt wie ein Beweis hinter dem Schreibtischsessel, auf dem sie noch immer sitzt. Der Beweis, dass sie auch für viel Geld der Welt ihre Lebensweise und ihre Freiheit nicht mehr aufgeben wird.

... dicker Vorschuss

Das Reden mit Zink ist ein bisschen so, wie ihr neues Buch zu lesen. Es geht nahtlos von einer Szene zur nächsten. Und: Man möchte nicht mehr aufhören. Sie erzählt über Juliette Binoche und wie schmerzvoll diese sich in Kieslowskis Drei Farben: Blau die Knöchel ihrer Hand an einer Hausmauer aufschürfte, über die Grünen im Schwabenland, die "Shitty Media Men"-List und #MeToo in den USA, was man nicht tun darf, wenn man einem Wolf begegnet, warum sie für niemanden Mutterliebe empfinden will oder was die Anti-Raucher-Debatten in den USA mit der Kopftuchdebatte in Deutschland zu tun hat.

Heute Abend wird sie wieder zurück in ihre eigene Einzimmerwohnung nach Bad Belzig fahren. Mit dem Zug, ein Auto besitzt sie nicht. Dieser Zug in das südliche Umland von Berlin ist an Wochenenden mittlerweile rappelvoll, unter der Woche geht es noch. Eine Stunde dauert die Fahrt. Dann ist sie zu Hause. "Ich bin jemand, der ganz gut aufgehoben ist in einem Zimmer in Bad Belzig, um dort zu schreiben", sagt sie in dieser Mischung aus Ernst und Humor. Ein Nell-Moment. Vielleicht schreibt sie schon am nächsten, noch einmal dickeren Buch? Wer weiß?

Wir finden das gut, nicht nur ihre Agentin. (Mia Eidlhuber, 3.2.2018)