Graz/Wien – Es sind 21 sehr verstörende Seiten, die das Protokoll der polizeilichen Zeugenvernehmung der jungen Frau H. vom 23. Oktober 2014 umfasst. Darin beschreibt H. ihre – damals bereits beendete – Beziehung zum Landarzt Eduard L. und warum sie vor ihm Angst hatte.

Drohungen

Die Leser des Protokolls brauchen einen soliden Magen. Von Vorfällen, die teils in der Ordination stattfanden, erzählt H. da. Von Angeboten des Arztes, sich gemeinsam mit ihr, der Geliebten, die schon als Kind seine Patientin war, das Leben zu nehmen. Oder von der Drohung, dass L. das Haus seiner Ex-Frau "samt Inhalt" sprengen wolle. Die Zeugin spricht von Angst um sich und ihre kleinen Kinder.

L. ist jener steirische Arzt, dem seine vier heute erwachsenen Kinder vorwerfen, sie psychisch und körperlich gequält zu haben. Gegen den aufsehenerregenden Freispruch des Arztes wurde berufen. Es gilt die Unschuldsvermutung. Der Fall wird neu verhandelt. Dem "Nebenschauplatz", den Leiden der jungen Frau H., räumte Richter Andreas Rom in der Erstverhandlung kaum Platz ein.

Kopfschuss

Es gibt weitere Nebenschauplätze, denn der Vater von H. kam 2014 durch einen Kopfschuss ums Leben. Doch der anfangs von der Polizei vermutete Selbstmord wirft einige Fragen auf. Tatsächlich bestätigte die Staatsanwaltschaft Graz dem STANDARD bereits vor einigen Wochen, dass wegen Mitwirkung zum Selbstmord ermittelt wurde, das Verfahren wurde abgebrochen, aber nicht eingestellt. Dem STANDARD liegt nun ein Gutachten des bekannten Gerichtsmediziners Johann Missliwetz vor, das die Tochter des Toten privat in Auftrag gegeben hatte. Darin wird vor allem auf die fehlenden Schmauchspuren auf den Händen des Opfers hingewiesen, das in der Nachbarschaft der Familie L. wohnte.

Fragliche Herkunft

Missliwetz analysierte unter anderem die Unterlagen der Obduktion vom September 2014. Herr H., den seine Frau, deren Freund ebenfalls im Haus anwesend war, in der Küche liegend auffand, soll durch den Schuss einer kleinen Pistole der Marke Unceta y Cía Guernica gestorben sein. Über die Herkunft der Tatwaffe gibt es widersprüchliche Aussagen von Zeugen.

Jedenfalls sei der Tote nicht nur schwer an Leberzirrhose und Atherosklerose erkrankt gewesen, er soll im rechten Schulterbereich eine Gelenkprothese gehabt haben und deshalb unfähig gewesen sein, seinen Arm überhaupt über Schulterhöhe zu heben.

Das allein ist aber für Gutachter Missliwetz kein Grund, an der Selbsttötungstheorie zu zweifeln: "Man kann den Kopf auch hinunterbeugen, man muss den Arm nicht heben können, um sich in die Schläfe zu schießen", erklärt er im STANDARD-Gespräch. Was aber den Fall für ihn "sehr, sehr auffällig macht", seien eben die fehlenden mikroskopischen Partikel, die eine Schmauchwolke bei einer Schussabgabe jedenfalls auf der Hand des Schützen hinterlassen hätte. Außer man hätte Handschuhe getragen.

"Positive Schusshand" fehlt

"Wenn Sie von einem Suizid ausgehen, dann brauchen Sie auf jeden Fall eine sogenannte positive Schusshand, also Schmauchspuren", sagt Missliwetz. Diese fehle aber, obwohl die Hand auf Schmauchspuren untersucht wurde.

Missliwetz findet es bedenklich, dass auch keine "polizeiliche Sicherung" des Tatorts am Tag der Auffindung des Opfers, am 25. September 2014, erfolgte, da man zuerst nicht am Selbstmord zweifelte.

Nach von der Tochter des Toten geäußerten Zweifeln wurde eine Obduktion angeordnet, die die Theorie des Selbstmordes stützte. Erst das Ergebnis einer kriminaltechnischen Untersuchung am 10. Februar 2015 erweckte Zweifel.

"Suizid nicht beweisbar"

Missliwetz betont: "Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Fakten." Seine Conclusio: "Nach der derzeitigen Befundlage ist ein Suizid nicht beweisbar und die Fremdbeibringung des Schusses nicht auszuschließen, sondern nicht unwahrscheinlich." (Colette M. Schmidt, 1.2.2018)