Stanford – Nicht, dass Spinnen heute eine seltene Erscheinung wären: Über 100.000 rezente Arten von Spinnentieren – inklusive Skorpionen und Milben – hat man bereits identifiziert. Neben der Artenfülle an Insekten verblasst dies allerdings: Hier beläuft sich die Zahl an bereits bekannten Spezies auf eine Million, die "Dunkelziffer" könnte sogar zehnmal so hoch liegen.

Und doch gab es eine Zeit, in der die Insekten neben ihren Gliederfüßerverwandten nur die dritte Geige spielten. Im Zeitalter des Devon, noch bevor die ersten Wirbeltiere aus den Meeren kamen, hatten die Gliederfüßer bereits den neuen Lebensraum erobert und unter sich aufgeteilt. Und für lange Zeit wurden die Insekten dabei sowohl von den Spinnen als auch von den Tausendfüßern (heute etwa 16.000 Arten) übertrumpft.

Die rätselhafte Lücke

Über diese Ära des "Hexapod Gap", der "Sechsbeinerlücke", berichten Forscher der Stanford's School of Earth, Energy & Environmental Sciences im Fachmagazin "Proceedings B" der Royal Society. Diese Lücke erstreckt sich zwischen dem 385 Millionen Jahre alten Fossil eines Silberfischchen-ähnlichen Ur-Insekts und einer geradezu explosionsartigen Zunahme an Arten 60 Millionen Jahre später – dazwischen kaum etwas.

Das Team um Sandra Schachat nahm sich zwei gängige Erklärungen für diese rätselhafte Lücke vor: einen zu geringen Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre und eine für Fossilienbildung ungünstige Zusammensetzung der Sedimentschichten aus dieser Zeit. Beide verwarfen sie nach ihrer Überprüfung. Den bisher vermuteten Rückgang des Sauerstoffgehalts im Devon habe es neueren Daten zufolge gar nicht gegeben. Und auch die devonischen Sedimente seien sehr wohl dazu in der Lage gewesen, Insektenfossilien zu konservieren – hätte es denn welche gegeben.

Der entscheidende Schritt

Den Schlüssel zur Lösung des Rätsels sehen die Forscher vielmehr in einer bahnbrechenden evolutionären Entwicklung: Flügel. Das Team ging den Fossilienbefund aus der Zeit vor und während des Hexapod Gap durch und fand nirgendwo eindeutige Anzeichen für geflügelte Insekten. Die tauchten erst vor etwa 325 Millionen Jahren auf – und ab diesem Zeitpunkt schwang sich auch die Artenvielfalt der bis dahin an den Rand gedrängten Sechsfüßer in neue Höhen.

Schachat verweist darauf, dass die beiden allerersten eindeutig geflügelten Insekten bereits den zwei grundlegend unterschiedlichen Typen angehörten, die bis heute existieren: Neuflügler, die ihre Flügel eng an den Körper anlegen können (dazu gehört die große Mehrheit aller heutigen Fluginsekten) und solche mit einem Flugapparat à la Libellen. Das spricht laut der Forscherin dafür, dass es nach dem allerersten Insekt mit Flügeln zu einer geradezu blitzartigen Diversifikation kam.

Auf dem Weg zur Supermacht

Als erste Tiere überhaupt, die fliegen konnten, hatten die Insekten einen unschätzbaren Überlebensvorteil. Sie konnten sich auf dem Boden lauernden Gefahren jederzeit entziehen, sich rascher und weiter ausbreiten, schwer zugängliche Nahrungsquellen wie etwa die Spitzen baumähnlicher Pflanzen mühelos erreichen und letztlich sogar ganz neue ökologische Nischen erschaffen: So dürften fliegende Pflanzenfresser rasch zur Entwicklung von fliegenden Fleischfressern, ebenfalls Insekten, geführt haben, die sich auf diese zuvor nicht existierende Nische spezialisierten. Und für die nächsten fast 100 Millionen Jahre gehörte den Sechsbeinern der Luftraum noch ganz alleine.

Die Forscher rätseln zwar noch, wie sich Flügel ursprünglich überhaupt entwickeln konnten – aber nicht, dass damit die Verhältnisse an Land grundlegend verändert wurden. Es war der Beginn einer einzigartigen Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält: Schätzungen zufolge entfallen 90 Prozent der gesamten tierischen Artenvielfalt auf Insekten. (jdo, 4. 2. 2018)