Heinz Fischer ist grundsätzlich davon überzeugt, dass Menschen aus der Geschichte lernen. Aber: "Auch die dramatischsten Lehren verdampfen. Nächste Generationen müssen womöglich wieder Lehrgeld zahlen."

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Was würde Schriftstellerin Anna Baar sich für das Bestehen der Republik in den nächsten 100 Jahren wünschen? "Einen Aufstand der Lehrer, einen Bildungsaufstand für einen humanistischen Geist."

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"Wie wir Angriffe auf die Demokratie bekämpfen? Indem wir uns angegriffen fühlen und ihnen entgegentreten", sagt Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe.

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Ob es die Republik in 100 Jahren noch gibt, wisse er wirklich nicht, sagt der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg. "Aber eines weiß ich: Wir in Europa müssen aufwachen. Wir fallen zurück, und wir vernachlässigen die Zukunft."

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"Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter kann man vorausschauen" soll Winston Churchill einst gesagt haben. Dieses Credo galt auch am Sonntag im gut gefüllten Burgtheater. Wie unsere Republik in 100 Jahren aussehen wird, war dabei die Frage des Tages bei der vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der Erste-Stiftung, dem Burgtheater und dem STANDARD organisierten Matinee im Rahmen der Reihe "Europa im Diskurs". Eine Frage, die – darüber herrschte auf dem Podium Einigkeit – kaum zu beantworten ist, die aber in spannenden Handlungsanleitungen für die Gegenwart resultierte.

Visionen via Video

Eine Vision für die Zukunft sollten aber nicht nur die Gäste auf dem Podium entwickeln. Erstmals wurden via Video auch Ideen, Hoffnungen und Sorgen vieler Bürger auf die Bühne projiziert. Eine demokratische Gesellschaft mit sozialem Ausgleich in einem vereinigten Europa, in dem Offenheit und Toleranz gelebt werden und weniger gejammert wird, wünschten sich die auf der Straße befragten Menschen. Gleichzeitig äußerten viele aber die Sorge, ob ihre Visionen tatsächlich auch Zukunft haben.

Diese Besorgnis trug Moderatorin Lisa Nimmervoll gleich an die Podiumsgäste weiter: Was können wir tun, damit diese Regierungsform auch noch im Jahr 2118 besteht und gelebt wird?

Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer bemühte Optimismus: Es handle sich bei der Demokratie nicht nur um eine kluge und humane Regierungsform, sondern auch um eine stabile. "Sie hat Wurzeln geschlagen. Aber: Demokratie ist nicht unzerstörbar." Bedrohungen sieht Fischer unter anderem in sozialen Spannungen und einer nationalistisch-egoistischen Weltanschauung. Nicht zu unterschätzen sei aber auch die Gefahr von Abnutzungserscheinungen.

Wie sollen Angriffe auf die Demokratie abgewehrt werden? "Indem man sich angegriffen fühlt", knüpft Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer an die von Fischer angesprochene Abnützung an. "Die meisten Menschen hier im Saal sind in einer Demokratie aufgewachsen. Das Problem dabei ist, dass oft das Bewusstsein fehlt, das auch verteidigen zu müssen. Man gewöhnt sich schnell, man groovt sich ein." Stattdessen nehme er eine wachsende Toleranz gegenüber "skandalös menschenfeindlichen Haltungen" wahr. "Und dem kann man nur entgegentreten, indem man dem entgegentritt." Spontaner Applaus.

Engagement gewährleisten zu können bedeute allerdings das Empfinden von Selbstwirksamkeit – und das sei vielen Menschen abhandengekommen: "Wir brauchen deswegen eine Erziehung hin zur Demokratie", sagte Schriftstellerin Anna Baar. In der Bildung liegt für die in Wien, Klagenfurt und Dalmatien aufgewachsene Autorin auch der Schlüssel zum Jahr 2118: "Ich wünsche mir einen Bildungsaufstand, damit der humanistische Geist nicht verlorengeht." Mit Sorge nehme sie war, dass Schüler das Lesen als Zwang erleben würden.

Lehren für die Zukunft

Heute zu handeln lautet auch die Devise vom ehemaligen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg: "Was 2118 sein wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur eines: Wir in Europa müssen aufwachen." Die Top-Unis seien längst in anderen Staaten daheim, außerdem würden viele Länder mehr importieren, als sie exportieren. "Wir fallen zurück. Wir vernachlässigen die Zukunft." Anders als Fischer ist Schwarzenberg wenig optimistisch. Dass Menschen aus der Geschichte lernen – "davon bin ich nicht überzeugt". Er höre vieles von dem wieder, was typisch für die Zwischenkriegszeit war: Parlamente seien "Quatschbuden", und es werde so viel Steuergeld verschwendet.

Gilt also Ingeborg Bachmann: Die Geschichte lehrt, aber sie findet keine Schüler? Fischer ist das zu pessimistisch. Aber auch er gibt mit Blick auf das am Samstag begangene Holocaustgedenken zu: "Selbst die dramatischsten Lehren verdampfen mit der Zeit." Welzer, der zum Umgang mit dem Holocaust forscht, glaubt nicht, dass der Stellenwert dieses Ereignisses in 100 Jahren noch der gleiche sein wird. Erinnerungskultur solle aber auch nicht in Ritualisierung erstarren, "denn sonst kann das Augenmerk für jene Entwicklungen verlorengehen, die tatsächlich passieren."

Eine Frage bringt der ehemalige Bundespräsident gegen Ende der Diskussion selbst ein: Werden die Menschen in 100 Jahren eigentlich glücklicher sein? Man habe sich heute ja darauf geeinigt, dass positive Entwicklungen schnell zur Selbstverständlichkeit werden. "Absolut", meint Welzer. Das Positive in den Vordergrund zu rücken und nicht in Hysterie zu verfallen sei deswegen essenziell. Da stimmt auch Baar zu und kehrt nochmals zu Bachmann zurück. "Ich denke, es ist eher so: Die Geschichte lehrt. Aber die Schüler brauchen Nachhilfe."

Optimistisch sind dann auch die Schlussworte, die die Diskutanten an die Menschen aus dem Jahr 2118 richten: "Fürchtet euch nicht, und tut etwas" , schickt Schwarzenberg in die Zukunft. Welzer würde dann gerne eine "Verlebendigung der offenen Gesellschaft und Demokratie sehen". Und Fischer betont nochmals den Weg dorthin: "Wir müssen uns auch fragen, wohin wir uns denn eigentlich entwickeln wollen. Wenn wir zusammenhalten, werden wir eine Menge erreichen." (lhag, 29.1.2018)