Günther Tengel: "Wir stehen mit der Digitalisierung noch ganz am Beginn – wir wissen noch nicht, wohin uns das führt."

Foto: amrop jenewein

STANDARD: Was ändert die Digitalisierung gerade im Beratungsgeschäft?

Tengel: Ich sehe zwei gegeneinander gerichtete Parallelwelten entstehen. Die kommende Datenschutzgrundverordnung zeigt das plastisch: einerseits Datenschutz in allen Bereichen der persönlichen Daten, das wird die Branche stark verändern. Andererseits haben wir dieselben Personen, die diese ihre Daten auf allen möglichen Netzwerken hochladen, die Smartphone-Daten sind sowieso draußen. Das wird clashen.

STANDARD: Eigentlich doch eine gute Perspektive für das gehobene Segment ...

Tengel: Grundsätzlich ja. Der Beginn der Wertschöpfungskette – das Sourcing der Kandidaten – wird zunehmend digitalisiert. Das bedeutet kaum Eintrittsbarrieren und geringe Tradingkosten für CV-Trader, die "Cowboys" unter den Beratern. Am obersten Ende der Wertschöpfungskette werden Berater tätig sein, die Trends erkennen, Marktinfomationen haben, den Fit zwischen Kunden und Kandidaten erkennen können – einfach völlig andere Inhalte und Leistungsversprechen liefern. Und ja: Der Beratermarkt wird neu verteilt.

STANDARD: Welche Expertise genau abseits von allerorten etablierten Practice-Groups mit Branchen-Know-how – wird in diesem Markt dann den Unterschied machen?

Tengel: 60 Prozent der Menschen in der ersten Führungsebene sind nicht auf Xing oder ähnlichen Plattformen. Es ist eher schon wieder eine Gegenbewegung feststellbar. Es wird hinauslaufen auf: Kompetenzprofile versus Menschen.

STANDARD: Um als Berater mitgestalten statt nur besetzen zu können, braucht es aber dritte Mitspielende: die Auftraggeber, Eigentümer, Aufsichtsräte ...

Tengel: Ja. Immer stärker geht es darum, die unterschiedlichen Lebenskonzepte und Prioritäten der jeweiligen Kandidaten zu erkennen. Diese Bedürfnisse verändern sich stärker, als die meisten Unternehmen dies wahrhaben wollen. Das Matchen der Erwartungen wird immer schwieriger. Projektteams werden den Erfolg stärker beeinflussen als Einzelkämpfer – und die sind wesentlich schwieriger zu führen. In dieser Transformation wird Onboarding zum Erfolgskriterium.

STANDARD: Noch einmal zurück zur Digitalisierung: Bot-Systeme werden im Recruiting gerade State of the Art. Was macht Sie so zuversichtlich, dass es dadurch auch zu einer Art "Renaissance" des Menschen kommt?

Tengel: Für mich ist offensichtlich: Jede Bewegung erzeugt eine Gegenbewegung.

STANDARD: Vermutlich eine Glaubensfrage ...

Tengel: Ja, bestimmt! Die Digital Nerds sehen das bestimmt anders. Wir wissen nicht, wohin uns die Digitalisierung führt. Für mich ist aber klar: Je mehr Matching-Systeme, Bot-Lösungen und Applicant-Tracking-Systeme es geben wird, desto mehr wird uns klar werden, was fehlt: Kultur, Werte, Einstellungen. Bei all unseren Gesprächen mit Top-Entscheidungsträgern können wir unsere Verantwortung wahrnehmen – bei aller Digitalisierung auf eine "Renaissance der Menschlichkeit" zu setzen.