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Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Blicke und Prognosen, die Zukunft betreffend, sind per se sinnlos. Und sollte tatsächlich jemand recht behalten (zum Beispiel: ich), wäre der Ruhm dennoch nicht mehr einzuheimsen ... Vogelknochenwerfer, Kaffeesudleser, Wetterfrösche und sonstige Alchimisten der Zukunft ziehen den Profit aus ihrer Scharlatanerie ja immer nur aus dem Verhältnis ihrer Vorhersage zur unmittelbaren Gegenwart. Der Blick auf das Jetzt trübt den Blick auf das, was sein wird. Dadurch wird es zu etwas, was sein sollte. Und umgekehrt. Verwirrend? Ganz klar!

Ich habe absolut keine Ahnung, was im Jahr 2118 im Burgtheater auf dem Spielplan stehen wird! Aber wenn ich wollte, dass sich jetzt schon etwas ändert (und das will ich ausgewiesenermaßen), sehe ich mich zu folgender düsterer Prognose genötigt: In hundert Jahren steht das Burgtheater auf jeden Fall noch! Es wird allerdings ein sehr dunkles, schwarzes Gebäude sein, nur von Kerzen und Kienspänen beleuchtet. Karten wird es nur auf dem Schwarzmarkt zu horrend hohen Preisen geben (die staatliche Subvention wurde in den frühen 30er-Jahren komplett abgeschafft), und die Termine für die "Vorstellungen" werden als Grafittis in Geheimschrift auf die Wände gesprüht werden. Wer es also ins "Theater" geschafft hat, wird durch geheime Gänge und über nur mehr ahnbare "Feststiegen" in Räume geführt werden, wo jedem seltsame, fast mikroskopisch kleine Goldfische in die Venen gespritzt werden.

Im Zuschauerraum und in den Logen brennen Holzfeuer, die "Zuschauer" sind nackt und schwitzen wegen der Hitze und der Droge in ihrem Körper; die Fischlein haben mittlerweile den Weg bis zum Gehirn geschafft. Auf der Bühne stehen: echte Menschen aus Fleisch und Blut! Früher hießen sie "Schauspieler", aber Texte sprechen und Stücke spielen sie schon lange nicht mehr. Eine Zeitlang hatte man sich noch mit "Performance" über Wasser gehalten, später, in den 2040er-Jahren, hatte man mit den alten Gladiatorenkämpfen experimentiert, aber da waren die Hologramme dann doch viel schneller und blutrünstiger gewesen. Ein gewisser Martin Kusej hatte es 2041 noch geschafft, das Wagenrennen aus "Ben Hur" mit echten Pferden und Schauspielern im Burgtheater zu inszenieren – das war dann aber auch das Ende der großen Aufführungen gewesen.

Nein, in hundert Jahren werden die "Schauspieler" auf der Bühne nichts anderes mehr tun als: sein! Sie werden zum Beispiel weinen. Ja, sie werden echte Tränen produzieren, weil sie spielen, dass sie traurig sind, dass sie sich freuen, dass sie verliebt sind oder dass ein wichtiger Mensch verstorben ist. Sie werden echte Trauer erzeugen können, viel besser als die Computer und Emotionschips im Gehirn der Zuschauer, deren Funktion durch die kleinen Fische in der Blutbahn außer Kraft gesetzt wurden. Die Darstellerinnen und Darsteller haben alles drauf: Schwitzen, Lachen, Kopulieren, sie können sämtliche Körperflüssigkeiten immer noch erzeugen, ja, es gibt tatsächlich auch Szenen auf Toiletten, denn keiner der Zuschauer hatte je erlebt, dass seine automatisch gesteuerte Verdauung und Entleerung zurück in den Organismus nicht problemlos funktionierte.

Kostbare Tränen

Die Vorstellungen sind anstrengend und lange. Am Ende gibt es noch lustige "Satyr-Spiele", denn die beim Lachen erzeugten Tränen sind das Kostbarste und Teuerste, das es noch "leibhaftig" zu erleben gibt. Schließlich, wenn die Feuer und Kerzen heruntergebrannt sind, gehen alle leise und fast andächtig aus der Dunkelheit wieder nach draußen in die helle schöne, neue Welt.

Österreich wird dann übrigens nur noch eine Provinz in einem "Vizegrad" genannten Reich sein, das im Südosten Europas liegt. Das "Reich", zu dem auch die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan gehören, hatte sich vom restlichen Europa abgetrennt, weil es seine Energie nach wie vor nur aus fossilen Brennstoffen gewinnen wollte und weiterhin Plastik produzierte. Es wird von einer reichen, elitären und gewaltbereiten Clique regiert, die sich übrigens permanent von Hellsehern und Wahrsagern beraten lässt. Nach außen hat sich das Reich mit einer Art Demarkationslinie aus Beton, Stacheldraht und Minen abgeschottet. An den Grenzen gibt es Lager, in denen ausreisewillige Österreicher viele Jahre "konzentriert" festgehalten werden. (Martin Kušej, 27.1.2018)