Über einen Mangel an Geschichte in den vergangenen 100 Jahren kann sich in Österreich niemand beklagen.

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Zukunft braucht Herkunft, heißt es. Über einen Mangel an Geschichte in den vergangenen 100 Jahren kann sich in Österreich niemand beklagen. Wenn es etwas zu beweinen gälte, dann tatsächlich jene atemberaubende Geschichtsvergessenheit, die sich dieser Tage einmal mehr zeigt. Deshalb bedeutet "Österreich neu entdecken" auch, Österreichs Geschichte für die Zukunft neu zu entdecken. Denn wenn es zutrifft, dass wir sind, was wir waren, dann müssen wir dereinst wohl auch werden, was wir heute sind.

Alsdann, 1918: der Kaiser weg, die Republik da. Deutschösterreich ist "der Rest" des Reiches, national verzagt und scheinbar ohne Perspektive. Ein Meer an Blut und Leid hat die meisten Österreicher in den folgenden Jahren und Jahrzehnten erkennen lassen, dass ihr Land eine "Kompromissgeburt" im besten Sinne des Wortes ist (nur anachronistische Deutschnationale lassen die ersten sechs Buchstaben dieses Begriffes gerne weg).

Heute ist Österreich frei nach Robert Musil ein "Land mit Eigenschaften", das nahezu 100 Jahre benötigt hat, um sich gewissermaßen parallel zu all den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einen Wirklichkeitssinn anzueignen.

Konstruktion von Heimat und österreichischer Identität

Gelungen ist das durch zumindest drei Aktionen: durch Abgrenzung, Selbstbespiegelung und die Konstruktion neuer Identitäten.

Vor allem für die Abgrenzung musste lange die – noch einmal Musil – "auf Effekt geschulte Methodik der Deutschen" als Gegenmodell herhalten. Die Amplituden der Selbstbespiegelung schlagen noch immer zwischen zügellosem Größenwahn und obsessiver Selbsterniedrigung aus.

Im Sport schwingt das am deutlichsten mit: bloß keine schlechten Worte über Toni Sailer, dafür aber gleichzeitig aufzeigen mit geradezu weltmeisterlicher Niederlagenkompetenz (Toni Pfeffers Halbzeitanalyse beim Ländermatch 1999 auswärts gegen Spanien, Spielstand 5:0: "Hoch wern ma’s nimma g’winnen"). Das Spiel ging 9:0 aus.

Der Sport findet sich natürlich auch wieder in der Konstruktion von Heimat und österreichischer Identität – oder besser: brüchigen, vielschichtigen und multiplen Heimaten und Identitäten. Genauso finden sich darin die singende Familie Trapp, die Staatsoper, der Großglockner, der Germknödel und die Heimatbilder der vielen in diesem Land lebenden (Gesinnungs-)Österreicher. Passgenau die Südtiroler, die Serben, Bosniaken, Türken, Syrer und, ja, auch die quasi bei uns resozialisierten "Piefke" bestimmen, was Österreich in einer internationalisierten, globalisierten Welt in Zukunft sein wird.

Österreich neu entdecken heißt, Österreichs Erzählungen neu schreiben. Dafür ist die grundsätzlich sympathische Nationaleigenschaft des Selbstzweifels nötig, eine kritische Liebe zum Land und jene Weltoffenheit, die viele Bürger Österreichs haben, ohne groß darüber nachzudenken. Und dazu bedarf es eines geschärften Sinnes für Geschichte, der die Dämonen der Vergangenheit dorthin verweist, wohin sie gehören: in die vergangenen 100 Jahre. So, und nur so, hat Österreich Zukunft. (Christoph Prantner, 26.1.2018)