"Hotel Strindberg" am Wiener Akademietheater.

Wien – Die Gäste des Wiener "Hotel Strindberg" dürfen auf keinen besonderen Komfort hoffen. Sechs Zimmer gleichzeitig sind im Akademietheater zu bewundern. Die Wohnzellen liegen, trostlos auswechselbar in ihrer kalten Anonymität, über drei Stockwerke paarweise angeordnet (Ausstattung: Alice Babidge). Eine hässliche Feuerstiege zur rechten Hand dient als Transferraum, als ein Hebewerk für traumartige Orts- und Bedeutungswechsel.

Der "Lift" (gemeint: der Aufzug) ist laut Aussage des Rezeptionisten Xavier (Roland Koch) seit Jahren außer Betrieb. Die hier oft mehrere Wochen lang hinter transparentem Glas wohnen, die Zimmerbar plündern und durch die Normbetten turnen, sind Gespenster auf der Durchreise.

Teufel an der Wand

Aufgebrochen sind diese flüchtigen Schemen und Phantome etwa von der Schwelle der vorletzten Jahrhundertwende. Erfunden und als Teufel an die Wand gemalt hat sie der schwedische Radikaldramatiker August Strindberg (1849-1912). Sie alle sind mehr oder weniger Ausgeburten seines Wahns: Die ganze, sich damals rasant modernisierende Welt könnte es auf ihn, Strindberg, abgesehen gehabt haben.

Und also setzte sich dieser spekulative Feuerkopf, der als Naturalist begann und sich in die Logik des Traumgeschehens hinübertastete, erbittert zur Wehr. Er zertrümmerte die Konventionen von Ehemoral und der sexuellen Normalität. Er gab das Konzept der zu heiligenden Familie dem Höllengelächter Preis ("Der Vater", "Der Pelikan"). Strindberg zerstörte aber auch das Konzept des "Well-made plays" und erfand absurd anmutende Spielformen, in denen die Toten Sitz und Stimme eingeräumt bekommen ("Gespenstersonate").

Experimentierkammer

All diese wüsten Gedankenexperimente belehnt nun der Regisseur und Dramenübermaler Simon Stone. Er erfindet Figuren, die in der Experimentierkammer des August Strindberg vorgefertigt worden sind. Ihre Umrisse folgen nur komplett anderen Schnittmusterbögen. Sie sind mit der Schnauze und den halben Herzen von "Instagram-Usern" und Googlern ausgestattet. Sie heißen "Alfred", "Felix" oder "Johanne" und haben nicht immer – frei nach Handke – das Glück, dass sie nichts voneinander wissen.

Alfred (Martin Wuttke) zum Beispiel, der schütterhaarige Dialogschreiber aus dem Zimmer links unten, weiß viel zu wenig über Schauspielerin Charlotte (Caroline Peters) und ihrer beider gemeinsame Tochter Bescheid. Das erwachsen gewordene Kind fertigt pornographische Video-Installationen mit aufklärerischem Inhalt, und Alfred versteht nicht recht, warum er für den ganzen Blödsinn aufkommen soll. Wobei ihn seine Gemahlin, Typ: verblühende Diva, auch noch mit dem Comeback eines Verflossenen quält, der ihr heute als ihr Therapeut beisteht.

Witz und Redundanz

Die in ihrer monumentalen Beiläufigkeit wie hingerotzt wirkenden Dialoge strotzen gelegentlich vor Witz, öfter aber auch vor Redundanz. Der Australier Stone, der es zuletzt mit Ibsen und Tschechow aufnahm, ist der betriebsamste Durchlauferhitzer der dramatischen Moderne. Er kocht die Figuren erst weich, dann füllt er so lange neuere Denkweisen und Redensarten in sie ein, bis sie platzen.

Das ist natürlich kein Plagiarismus, sondern Stone katapultiert das jeweilige Dramenpersonal in neue Umlaufbahnen. Da gravitieren sie vor sich hin, in ihren Strümpfen und Höschen, und beflügeln ihre erotische Fadesse mit Hektolitern von Feuerwasser.

Sie sind sogar selbst Dramatiker wie Jakob (Michael Wächter). Sie gehen dann im "Hotel Strindberg" auf Tauchstation, empfangen Damenbesuch – oft von der Zimmernachbarin (Barbara Horvath) – und wickeln zugleich Scheidungsgeschäfte mit der Ex (Aenne Schwarz) ab, von der sie in Wahrheit nicht lassen können und die sie, natürlich unbeabsichtigt, zu Tode bringen.

Muttermonster

Die Tonalität dieser sinnreich miteinander verknüpften Dramenpartikel folgt der Ästhetik von "Netflix"-Serien. Man kann nicht ohne Erschütterung dem Monolog einer Schwangeren lauschen (Franziska Hackl), die die Erregungskurven ihres Zustands via Handy nachzeichnet. Man bekommt von Könnern wie Peters/Wuttke aber auch feistesten Albee-Eheklamauk um die Ohren geschlagen. Und Peters darf in einer Doppelrolle auch das Muttermonster aus "Der Pelikan" geben, das gefräßig wie eine Spinne den eigenen Schwiegersohn vernascht.

Man kann sich die Puzzleteile selbst zusammensetzen während dieser fünf Stunden (mit zwei Umbaupausen). Man darf sich aber auch um etliche, auch unschöne Facetten des Strindberg‘schen Ingeniums geprellt fühlen. Gemeint ist vor allem sein schockierender Frauenhass, dessen pathologische Anteile von Stone vielleicht nicht unterschlagen, aber doch dramatisch abgemildert werden.

Man kann ganz gut leben mit dieser Aufführung, die in Koproduktion mit dem Theater Basel entstanden ist. Man muss dem Hype um Simon Stone aber auch nicht erliegen. Man nimmt im "Hotel Strindberg" vor allem dann gerne Quartier, wenn es zu spuken anhebt wie im dritten und letzten Teil.

Abgetakelter Rockstar

Wuttke erscheint dann als Hotelgast, der seine eigene Reservierung drei Jahre (!) zu spät geltend macht und feststellen muss, dass die Lebensgenossen von einst längst andere Identitäten inne haben und seiner Anwesenheit in Wahrheit nicht mehr bedürfen. Alfred ist jetzt Holger, ein abgetakelter Rockstar, ein One-Hit-Wonder aus den steinzeitlichen 70er-Jahren. Seine schöne junge Gefährtin (Aenne Schwarz) ist ausgerechnet dem eigenen Sohn zugetan.

Holger verfällt und driftet ab in die Bezirke des Wahns. Die Hotelzimmerfluchten scheinen plötzlich wie leer gefegt, das "Hotel Strindberg" ist dann auch nichts anderes mehr: eine monumentale theatralische Irrenanstalt, mit geifernden Kerlen und gehirnerweichten Zauseln. Das ist, nach gefühlten Ewigkeiten, kein besonders geistreiches Plädoyer für oder wider den alten Strindberg.

So gilt es, dem großen Jubel entgegenzuhalten: So genial, wie August Strindberg in seinen dunkelsten Stunden war, muss Simon Stone, der Autor als Regisseur, erst noch werden. (Ronald Pohl, 27.1.2018)