Der Kärntner Historiker Johannes Schrittesser beschäftigt sich mit Hexen und Menschenfressern.

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Hexen treiben nicht nur Unzucht mit Dämonen, opfern dem Teufel kleine Kinder und können sich in Tiere verwandeln. Nein, sie fressen auch Menschen. Die Zeugnisse der Hexenverfolgung, wie sie in spätmittelalterlichen Werken wie dem Formicarius von Johannes Nider oder dem bekannten Hexenhammer von Heinrich Kramer niedergeschrieben sind, zeichnen ein wüstes, von Vorurteilen geprägtes Gesellschaftsbild.

Johannes Schrittesser verfasste an der Alpen-Adria-Universität (AAU) Klagenfurt seine Masterarbeit über den Hexenglauben im Spätmittelalter. Dabei stieß er auch auf das Thema Kannibalismus – und machte es zum Forschungsfeld seiner Dissertation, für die er mit einem Stipendium der Fakultät für Kulturwissenschaften der AAU gefördert wird.

Dunkelziffern

Der Kannibalismusvorwurf taucht im Mittelalter nicht nur in Zusammenhang mit Hexen auf. "Es gibt viele Quellen, die davon berichten, aber nur wenige Fälle, bei denen es mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich dazu gekommen ist. Allerdings ist mit einer gewissen Dunkelziffer zu rechnen" , berichtet der Historiker. Reale Fälle gab es wohl bei Belagerungen, etwa unter Teilnehmern des Ersten Kreuzzugs im 11. Jahrhundert oder bei der Belagerung der damals englischen Festung Château Gaillard unweit von Paris im 13. Jahrhundert. "Das waren Situationen, in denen Menschen nichts anderes übrigblieb, um zu überleben", resümiert Schrittesser. "Zu manchen Zeiten, in manchen Kulturen mag Kannibalismus zudem nicht so unvorstellbar grausig erschienen sein wie uns heute."

Die Mythenwelt der Antike lebte im Mittelalter fort. Der Zyklop Polyphem, der bei Homer schon Gefährten des Odysseus verspeiste, wurde etwa in späteren Märchen zum menschenfressenden Riesen, erläutert Schrittesser. Seit frühester Zeit wurden zudem entfernt lebende Völker, "Barbaren", der Menschenfresserei beschuldigt. "Im Zuge der Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts glaubte man nicht nur in Europa an Kannibalenländer, auch einige Ureinwohner Afrikas hielten europäische Ankömmlinge für Menschenfresser."

Der Leib Christi

Da der Großteil der Verfasser mittelalterlicher Schriften Kirchenleute waren, handelt ein großes "kannibalistisches" Thema der Zeit von der Eucharistie, der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi in der Messfeier – ein Ritus, der für Schrittesser zumindest teilweise auf in der Antike vorgeprägten nichtchristlichen Strukturen fußt. "In der Spätantike kommen Kannibalismusvorwürfe im Zusammenhang mit der Eucharistie vor, um konkurrierende christliche Splittergruppen zu diffamieren", erläutert der Historiker. "Später, im Mittelalter, verwendet die Amtskirche ähnliche Vorwürfe, um Juden oder Häretiker zu ächten."

Schrittesser landete bei Hexen und Kannibalen, obwohl er Wirtschaft studieren wollte. "Ich besuchte nebenher Geschichtsvorlesungen und bemerkte dabei, dass mich diese viel mehr interessieren", blickt der 1988 in Friesach in Kärnten geborene Wissenschafter zurück. "Also habe ich mich voll der Geschichte verschrieben."

Und schlägt sich die Dauerbeschäftigung mit Kannibalismus nicht aufs Gemüt? "Mit der Zeit wird man abgehärtet. Nach der zehnten detaillierten Beschreibung ist man nicht mehr so sensibel wie beim ersten Mal." (Alois Pumhösel, 28.1.2018)