Der Soul-Großmeister James Carr (links) mit Quinton Claunch vom Label Goldwax im Jahr 1992.

Goldwax

Glück braucht der Mensch: Roosevelt Jamison liefen gleich zwei der besten Soulsänger aller Zeiten in die Biografie. Jamison war der Entdecker von O. V. Wright und James Carr. Die beiden sangen Anfang der 1960er gemeinsam in der Gospelgruppe Harmony Echoes. Ein paar Jahre später sollten sie im weltlichen Fach zwei der Größten werden.

Zugegeben, dieser Eintrag reizt den Titel des Blogs – Unknown Pleasures – gehörig aus. Denn wer sich ernsthaft für Soul interessiert, kennt beide Namen. Andererseits kann die Gemeinde der Eingeweihten nicht groß genug sein. Also: Hier soll es um James Carr aus Memphis gehen. Seine Geschichte und jene des Labels Goldwax sind gewissermaßen deckungsgleich.

Das Debütalbum von James Carr (1967).

Das Label hatte Anfang der 1960er eben erst begonnen, als der Betreiber Quinton Claunch James Carr kennenlernte. In einem Artikel aus den 1990ern erinnert er sich für den Memphis-Music-Chronisten Robert Gordon an dieses erste Treffen.

Es war schon nach Mitternacht, als es bei Claunch an der Tür klopfte. Als er öffnete, standen vor ihm drei schwarze junge Männer. Jamison, Overton Vertis Wright und James Carr. Sie sagten, sie hätten Bänder, die er sich anhören sollte. Claunch bat die drei herein.

Casting am Wohnzimmerboden

Sie stellten eine kleine Bandmaschine auf, setzten sich auf den Wohnzimmerboden, jemand drückte auf "Play". Es waren Demoaufnahmen von Wright und Carr. Claunch war begeistert und sagte zu, sie zu veröffentlichen.

Doch Wright sollte Jamison (und Claunch) bald abhandenkommen. Als der seine Debütsingle "That's How Strong My Love Is" veröffentlicht hatte, meldete sich Don Robey. Der meinte, Wright stünde bei seinem Label Duke Records unter Vertrag.

O. V. Wrights Eintrag bei Goldwax Records: "That's How Strong My Love Is".
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Robey, ein übel beleumundeter Labelboss drüben in Texas, argumentierte in Verhandlungen gerne mit einem geladenen Revolver, Jamison ließ Wright also ziehen, sorgte aber dafür, dass Wright noch ein paar Tage unter polizeilichem Schutz stand, weil er Robey alles zutraute, wie Peter Guralnick in seinem Buch "Sweet Soul Music" schreibt.

Wrights "That's How Strong My Love Is" wurde in der Folge von Otis Redding gecovert und dann für die Rolling Stones ein Hit (auf "Out Of Our Heads"). Jamison hatte einen Grundstein gelegt.

Lebenslange Freunde und Stabilisatoren

Nachdem Wright weg war, konzentrierte er sich auf Carr. Der arbeitete damals als Fließbandarbeiter für eine Möbelfirma. Er hatte noch als Teenager geheiratet und sollte bald fünf Kinder haben. Was noch nicht bekannt war: Carr war manisch-depressiv. Claunch und Jamison wurden seine lebenslangen Freunde, oft waren sie die einzigen Stabilisatoren in seinem Leben.

Am dunklen Ende der Straße

Für Goldwax nahm der 1942 geborene Sänger zwei Singles auf, bevor ihm im Frühjahr 1966 mit "You Got My Mind Messed Up" ein landesweiter Hit gelang. 28 Songs hinterließ er dem Goldwax-Katalog und machte das kleine Label damit für Jahrzehnte populär unter Soulfans. Darunter befindet sich der Song, der wohl für immer mit ihm in Verbindung gebracht werden wird: "At The Dark End Of The Street."

Der Song, der immer mit James Carr in Verbindung gebracht werden wird: "At The Dark End Of The Street".
Ace Records Ltd

Ein Klassiker des Genres und die erste Zusammenarbeit der beiden Musiker und Produzenten Chips Moman und Dan Penn in Momans American Studios. Es ist einer dieser traurigen Songs im Midtempo, in dem sich die Autorität Carrs vollends entfaltet. Seine Kunst ist verwandt mit der des Otis Redding, doch Carr war kein wilder Shouter.

Ein stiller Mensch

Andere Sänger, schreibt Gordon, sangen, als ginge es um ihr Leben. Carr sang, als wäre sein Leben schon vorbei, als seien seine Songs das Einzige, was noch übrig sei.

Er war ein stiller Mensch und konnte weder lesen noch schreiben. "Er war eher langsam, während O. V. aggressiv war", sagt Jamison in "Sweet Soul Music".

James Carr 1992 live in Italien – immer noch eine Naturgewalt.
Barry Fowden

Der einsetzende Erfolg prüfte Carrs labiles Wesen. Immerhin trat er einmal im New Yorker Apollo auf. Sein Konzert in einer Show mit James Brown, Otis Redding und Wilson Pickett soll ein Triumph gewesen sein. In New York entließ er Jamison als Manager und verpflichtete statt ihm den Chef von Bell Records, Larry Uttal. Eine schlechte Entscheidungen.

In der Versenkung verschwunden

Es folgten leere Versprechungen, Carrs schlimmer werdende Krankheit besorgte den Rest. Sechs Monate später hatte er einen Zusammenbruch und verfiel in Depressionen. Jamison sagte später, dass Uttal keine Ahnung gehabt hätte, auf wen er sich da eingelassen hatte.

Nach zwei heute als Meilensteine geltenden Alben – "You've Got My Mind Messed Up" 1967 und "A Man Needs A Woman" 1968 – verschwand Carr scheinbar in der Versenkung.

Ein Ausflug ins Uptempo – "Freedom Train".
bricomaligno

Lange Jahre verbrachte er vor dem Fernseher, lebte mit seiner Schwester zusammen, und öfter als einmal hieß es, er sei gestorben. Nur drei Songs soll er in den 1970ern aufgenommen haben, in den 1980ern war er vollkommen weg. Doch er tauchte wieder auf. 1991 erschien das Album "Take Me To The Limit".

Aufgenommen in den Easley Studios im Memphis, war es allerdings kein großer Wurf. Aber es legte Zeugnis davon ab, dass der Mann mit einer tauglichen Band immer noch Klassiker hätte aufnehmen können.

Wirres Haar, lange Nägel

Gordon war bei den Aufnahmen für "Take Me To The Limit" dabei. Carr wirkte verwahrlost. Er trug wirres Haar und krass lange Fingernägel. Er saß in einem finsteren Winkel des Studios in einer Rauchwolke und trug Sonnenbrillen. Musik lief. Langsam begann er zu summen, um dann plötzlich den Song in einem Take abzuliefern. Wie früher.

Damals, erzählt Dan Penn, einer der Autoren von "At The Dark End …", saß Carr auch oft stundenlang nur da, war nicht ansprechbar, grinste nur entrückt – um dann plötzlich einen genialischen Song wie aus einem Guss aufzunehmen.

Songs wie Geständnisse, Verzweiflung und Ekstase am Ende.
Dorryval

Doch diese Lieder aus den 1960ern waren nicht bloß Songs. Es waren emotionell zerrüttete Geständnisse, die er mit der Festigkeit einer seit Kindheitstagen am Gospel geschulten Stimme vortrug. Einem Bariton von fast opernhafter Wucht, den es in die Niederungen menschlicher Zerwürfnisse und profaner Katastrophen verschlagen hatte.

Dort empfand und durchlitt er sie mit einer Eindringlichkeit, die ihn in den Olymp der Soulmusik emporhob. Dennoch ging es sich nicht aus.

Ein Teufelskreis

Wenn Carr seine Medizin genommen hat, soll er halbwegs stabil gewesen sein. Dann verdiente er Geld, doch wenn er Geld hatte, erzählt Claunch, gab er es für Schnaps, "womens" und Dope aus – dann vergaß er seine Medizin zu nehmen. Ein Teufelskreis. Hinzu kam Mitte der 1990er Lungenkrebs, 2001 starb er im Alter von 58 Jahren in Memphis.

"You've Got My Mind Messed Up" – ein Lied wie eine Biografie.
ellzjon

Doch seine Musik ist unsterblich. Seine beiden Alben aus den 1960ern werden heute im Original um obszöne Preise gehandelt, doch es gibt offizielle Nachpressungen. An die 20 Euro kostet ein Flug mit Cptn. Carr in den Deep-Soul-Himmel. Lebenswichtig ist die CD mit all seinen Goldwax-Aufnahmen.

Weltkulturerbe

Diese Aufnahmen sind Soul von rarer Wucht, eloquent instrumentiert, kein Firlefanz, oft von Reggie Youngs Gitarrenspiel begleitet, alles in allem Weltkulturerbe. Die hier eingebetteten Videos sind mehr oder weniger willkürlich ausgewählt, denn es gibt nicht einen schlechten Song in dieser Sammlung.

Die Orgel!
marmalade166

Ein paar Mal ging Carr noch auf Tour. In Japan soll er in den 1970ern einen desaströsen Auftritt hingelegt und gar nicht gewusst haben, wo er überhaupt sei. In den frühen 1990ern hingegen triumphierte er in New York; und auch in Italien ist er 1992 beim Porretta Sweet Soul Festival aufgetreten. Von dem Gig gibt es ein paar Live-Aufnahmen auf Youtube – was für eine Macht! (Karl Fluch, 23.1.2017)