"Schuldig" oder "nicht schuldig"? Im Theaterstück entscheidet das Publikum.

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Terroristen entführen ein Flugzeug, um es über einem Stadion abstürzen zu lassen. Eine Luftwaffenpilotin schießt zur Rettung der Stadionbesucher die Maschine mit allen Passagieren entgegen den Grundsätzen eines deutschen Bundesverfassungsgerichtsurteils aus 2006 ab. Das fiktive Strafverfahren gegen die Pilotin ist Thema von Ferdinand Schirachs Justizdrama "Terror", das gerade in Wien läuft. Hinter dem packend gespielten Stück lauert jedoch ein anderer Furor Teutonicus: Die zwanghafte Verabsolutierung als richtig erkannter Prinzipien, die am Ende die Prinzipien unter sich begräbt.

Verfassungsjuristischer Ausgangspunkt ist das Luftsicherheitsgesetzurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG): Die Menschenwürde jedes Einzelnen ist zu achten, der Staat dürfe daher niemals die Tötung der unschuldigen Passagiere in Kauf nehmen. Diese würden dadurch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns.

Opfer und Objekt

Recht soll aber die Probleme des Gemeinwesens durch den Einsatz von Hoheitsgewalt lösen. Selbst bei so essentiellen Werten wie der Menschenwürde, hätte daher das BVerfG nicht mit der Feststellung eines Prinzips aufhören dürfen. Die staatlichen Handlungsalternativen müssen anhand aller relevanten rechtlichen Prinzipien bewertet werden.

Die staatliche Entscheidung, den Abschuss nicht vorzunehmen, macht die Zuschauer im Stadion zu Opfern des Terrorangriffs. Sie werden gleichfalls Objekt, nämlich Objekt staatlicher Untätigkeit, ohne am Tod der Flugzeugpassagiere etwas zu ändern. Zur Verletzung der Menschenwürde tritt noch die Missachtung der ebenfalls essentiellen Verpflichtung des Staates, das Leben seiner Bürger zu schützen.

Fragwürdiges Fragment

Das deutsche Urteil ist also ein fragwürdiges Fragment. Obendrein entzieht sich das BVerfG seinen Aufgaben mit dem Argument, im Zeitpunkt des Abschusses stehe dessen Erforderlichkeit nicht mit Gewissheit fest. Demgegenüber hat der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte bereits 1995 im McCann-Urteil den richterlichen Kontrollmaßstab solcher Prognosen festgelegt: Lagen im Zeitpunkt der Entscheidung gute Gründe für die Annahme vor, dass der Waffeneinsatz notwendig ist?

Überhaupt ignoriert das BVerfG und mit ihm Schirach die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) völlig. Nach Artikel 2 Abs. 2 EMRK widerspricht die staatliche Tötung von Menschen nicht dem Recht auf Schutz des Lebens, wenn sie das Resultat einer Gewaltanwendung ist, die unbedingt erforderlich war, um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen oder um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.

Keine Carte blanche

Bereits nach dem Straßburger Dubrowka-Urteil 2011 kann die Tötung Unschuldiger durch Maßnahmen der Terrorbekämpfung rechtmäßig sein. Wenn solche Maßnahmen zum Beispiel zur Befreiung von Geiseln nicht über das unbedingt erforderliche Maß der Gewaltanwendung hinausgehen und alles Mögliche getan wird, um das Leben Unschuldiger zu schützen.

Das europäische Gericht erteilt niemals eine Carte blanche. Es stellte mehrfach Rechtsverletzungen fest, wenn Aspekte des Sicherheitseinsatzes sorgfaltswidrig oder der Waffeneinsatz überschießend waren. Andererseits kann nach dem Urteil zur Geiselbefreiung in Beslan 2017 manchmal selbst der Einsatz von Waffen unvermeidbar sein, die nicht zwischen Kämpfern und Unschuldigen unterscheiden. Nach Straßburg darf der staatliche Kampf gegen Terror also in Extremsituationen den Tod Unschuldiger miteinschließen. Straßburg musste zwar 2011 dem BVerfG aufgrund unterschiedlicher Sachverhalte nicht explizit widersprechen. Logisch zu Ende gedacht, müsste aber der Flugzeugabschuss als ultima ratio gebilligt werden.

Juristische Probleme juristisch lösen!

Schirach führt uns also in die Irre, wenn er das deutsche Urteil als letztgültige und einzige Antwort der grundrechtlichen Rechtsprechung auf das "Flugzeugentführungs-Dilemma" präsentiert, damit er dramaturgisch den Gegenpol zu den ja scheinbar nicht adäquaten menschenrechtlichen Prinzipien der Berufsjuristen aufbauen kann: Das Publikum soll als Pseudogeschworene entscheiden. Als letzte Antithese zum weltfernen Verfassungsrecht tritt im Stück die Richterin vor die Zuschauer und ermuntert freundlich zur Abstimmung. Sie sei sicher, dass alle "richtig" abstimmen würden.

Dass alle "richtig" entscheiden, kann bei durchschnittlicher Heterogenität logisch nur zutreffen, wenn es auf das Ergebnis nicht ankommt. Lösen wir das Problem doch nicht juristisch! Jeder entscheidet "richtig", wenn er sich nur bemüht und menschlich bleibt, ist offenbar Schirachs Lösung.

Menschlich verständlich, dennoch sollten wir juristische Probleme juristisch lösen. Denn Recht ist eine kulturelle Errungenschaft, die verlässlichere Entscheidungen als bloßes Vertrauen in Gefühl und Weltanschauung bietet. Mit nüchterner und realitätsbezogener juristischer Methodik sind dabei akzeptable Lösungen möglich, wenn Richter keiner metajuristischen Neigung zur Verabsolutierung von Idealen nachgeben. (Alexander Latzenhofer, 24.1.2018)