Vösendorf 2016: Marine Le Pen mit Harald Vilimsky und Heinz-Christian Strache.

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STANDARD: Die FPÖ war bisher als Mitglied in der Le-Pen-Fraktion im Europaparlament auf Totalopposition zur EU. Hat sich das mit dem Eintritt in die Regierung geändert?

Vilimsky: Wir waren nie in einer Totalkonfrontation. Wir hatten eine Linie gehabt, die wir akzentuiert vorgetragen haben. Nach den Wahlen im Oktober waren wir mit einer Partei in Verhandlung, die sich in Richtung unserer Linie bewegt hat. Wir haben in vielen Bereichen Gemeinsamkeiten gefunden, die zu einer Regierungskoalition geführt haben.

STANDARD: Sie sprechen von der ÖVP, die sich Europapartei nennt?

Vilimsky: Genau. Die Kurz-ÖVP bewegt sich thematisch auf uns zu. Ob das strategisch war, ob es wirklich Ausdruck der Kurz-Gruppe innerhalb der ÖVP ist, ob die ÖVP gesehen hat, dass sie damit an ein größeres Wählerreservoir herankommen kann, das ist eine Frage, die sie beantworten muss. Wir haben uns in vielen Bereichen gefunden. Jeder hat Kompromisse machen müssen, jeder hat Dinge nicht durchsetzen können.

STANDARD: Inwieweit hat sich die ÖVP auf die EU-skeptische FPÖ zubewegt oder sogar deren Positionen übernommen?

Vilimsky: Das ist jetzt Ihre Interpretation. Ich behaupte, die FPÖ war die erste Europapartei überhaupt im Land.

STANDARD: Historisch ja. Die FPÖ war die erste Partei, die im Parteiprogramm den EG-Beitritt verlangt hat. Das war aber vor Jahrzehnten, noch bevor Jörg Haider 1986 die Parteiführung übernommen hat.

Vilimsky: Davon haben wir nie Abstand genommen. Wir haben immer gesagt, wir wollen ein Europa nach dem Modell von Charles de Gaulle, ein Europa der Nationen, wo jeder Platz finden kann, der dieser Gemeinschaft angehören will. Wir haben mehr auf den souveränen Aspekt der Nationen gesetzt, während die ÖVP dieses Zentralisierungsmodell favorisiert hat.

STANDARD: Da sprechen Sie jetzt aber von den 1960er-, den 1970er-Jahren. Aber inzwischen hat sich in Europa ja doch einiges geändert. Haider war 1994 mit der FPÖ gegen den EU-Beitritt, man kann ja schwer behaupten, dass das eine proeuropäische Haltung war, oder?

Vilimsky: Damals war Maastricht. In dieser Form haben wir das nicht für positiv befunden.

STANDARD: Den EU-Vertrag von Maastricht 1992, der die Währungsunion, den Euro und im Prinzip die politische Union vorgesehen hat?

Vilimsky: Genau, das ging mit dem Lissabon-Vertrag weiter, bei dem wir erkannt hatten, dass darüber nicht jener Dialog stattgefunden hat, der eigentlich notwendig gewesen wäre.

STANDARD: Aber es hat doch von 2002 bis 2009 gedauert, bis dieser Vertrag endlich zustande kam, nach jahrelangem öffentlichen Streit quer durch die Union. Kein Dialog?

Vilimsky: Man hat mit diesem Lissabon-Vertrag jene EU-Verfassung hineingeschwindelt, die vorher in demokratischen Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt worden war. All das, was an weiteren Vertiefungen heute stattfindet, hat ebenfalls nicht unser Wohlwollen, zum Beispiel die Energieunion.

STANDARD: Das heißt, die Position der FPÖ zur EU hat sich durch die Regierungsfunktion jetzt nicht geändert?

Vilimsky: Jein. Wir haben uns in Bezug auf die geplanten EU-Reformen auf das Szenario vier verständigt.

STANDARD: Ein Szenario unter fünf Vorschlägen der EU-Kommission im Weißbuch, es solle mehr Subsidiarität geben, weniger EU-Regeln bei der Umsetzung auf nationaler Ebene.

Vilimsky: Das ist das Beste, es beschreibt die Stoßrichtung, in die es gehen müsste. Dass wir in manchen Politikbereichen mehr EU haben als früher und auch tiefer gehen, damit können wir leben.

STANDARD: Subsidiarität wird oft missverstanden, als sei das etwas, was gegen die weitere Integration gerichtet sei. In Wahrheit ist es doch so, dass es auch dabei in den wichtigsten Bereichen wie Sicherheit, Euro, Migration, EU-Außenhandel, Klimaschutz möglichst maximale Integration geben soll. Das ist ja eben die Maastricht-Union. Im Dezember wurde auch die Verteidigungskooperation beschlossen. Wollen sie, wie Marine Le Pen, den Euro rückabwickeln?

Vilimsky: Es geht nicht um die Rückabwicklung des Euro. Aber die Reise soll aus unserer Sicht nicht in die weitere Vertiefung der Gemeinschaft gehen. Wir sagen, es soll manches in die nationalen Parlamente zurückgehen, auch unter Berücksichtigung der direkten Demokratie, um die Akzeptanz zu erhöhen.

STANDARD: Aber das ist nicht das, was Bundeskanzler Sebastian Kurz gerade in Brüssel, Paris und Berlin erklärt hat. Er will eine Vertiefung in der Eurozone, bei der Verteidigung, der Sicherung der EU-Außengrenzen und so weiter. Da will er nicht weniger, sondern mehr EU. Das passt nicht zusammen, oder?

Vilimsky: Das passt vielleicht aus Ihrer Sicht nicht zusammen, aus meiner Sicht sehr wohl. Ich habe zum Beispiel nichts dagegen, mehr Schutz der Außengrenzen vorzunehmen. Es passiert nur nicht. Ich habe auch nichts gegen den Euro. Der Euro ist eine Währung, für mich etwas Leidenschaftsloses. Er muss nur die Aufgabe erfüllen, die Kaufkraft zu erhalten, damit die Menschen am Ende des Jahres nicht weniger an Wert haben bei dem, was sie erspart haben, als am Beginn des Jahres.

STANDARD: Die Inflation liegt seit der Euroeinführung im Schnitt sehr stabil bei zwei Prozent und darunter, viel stabiler als beim Schilling. Die ÖVP hat noch nie erklärt, sie wolle heute ein Europa nach dem Vorbild von Charles de Gaulle. Das ist doch ein Widerspruch, nicht?

Vilimsky: Wir sind Demokraten, die zur Kenntnis nehmen, was in Abstimmungen herauskommt. Wenn eine satte Mehrheit der Österreicher diesen Kurs der Europäischen Union unterstützt, dann haben wir das zu akzeptieren. Aber es ändert auch nichts daran, dass wir für die Diskussion unsere Standpunkte beibehalten. Ich bedauere diese Konnotation, dass die, die für eine Zentralisierung sind, die guten Europäer sind, und die, die für lockere Zügel sind, sind die schlechten Europäer. Das halte ich nicht für gut, es stimmt auch nicht.

STANDARD: Halten Sie den Maastricht-Vertrag nach wie vor für einen Fehler? Würden Sie sich wünschen, dass wir eine EU hätten, die in den 1980er-Jahren mit der Integration aufgehört hätte?

Vilimsky: Das macht jetzt wieder einen negativen Beigeschmack, den ich nicht haben will.

STANDARD: Ich will es nur verstehen.

Vilimsky: Faktum ist, wir haben diesen Vertrag. Er ist geltendes Rechtswerk, und ich kann ihn auch nicht rückabwickeln. Es gibt auch nicht die demokratischen Voraussetzungen dafür, das einzuleiten.

STANDARD: Aber das ist ja genau der Vorwurf, den man der FPÖ macht in Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in der Fraktion der extrem rechten Parteien im EU-Parlament, genannt Europa der Nationen und der Freiheit. Die wurde von Ihnen und Marine le Pen, der Chefin des Front National, 2015 gegründet. Le Pen sagt ständig, sie wolle diese Union abwickeln, Frankreich soll aus dem Euro gehen, die Grenzkontrollen soll es wieder geben, Schengen solle abgeschafft werden. Sie sind Vizepräsident der Fraktion. Was gilt jetzt? Wieso sind Sie dann in dieser Fraktion?

Vilimsky: Erstens weil es eine gute arbeitstechnische Basis für uns ist. Zweitens, weil wir Österreicher uns in dieser Fraktion völlig frei bewegen können. Wir wollen an unserem Abstimmungsverhalten gemessen werden, an nichts anderem. Wenn man nun darüber spricht, dass einer in der Öffentlichkeit nicht das beste Image hat, zum Beispiel in der EVP, dann ist das die Frau Mussolini.

STANDARD: Eine italienische EU-Abgeordnete bei den Christdemokraten, die den Neofaschisten abgeschworen hat.

Vilimsky: Eben. Für uns ist die ÖVP in ihrem Handeln in der Fraktion maßgeblich. Und wir sind in der ENF-Fraktion in unserem Handeln maßgeblich. Aber natürlich, alles fließt, auch die Franzosen definieren ihre Linie gerade neu.

STANDARD: Ihre EU-Abgeordnetenkollegen vom Front National?

Vilimsky: Ja, der möchte sich neu ausrichten und möchte auch zur Kenntnis nehmen, dass doch eine satte Mehrheit der Europäer diese europäische Kooperation, ich nenne das mal so, als positiv erachtet.

STANDARD: Außer Ihrer Fraktion nennt das keine andere Fraktion im EU-Parlament Kooperation. Es ist eben eine Union, die wir in der EU haben, mit deutlichem Souveränitätsverzicht, nicht nur Kooperation.

Vilimsky: Mit Union ist aber auch immer sehr stark der Wunsch verbunden, alle Macht nach Brüssel zu holen. Ich spreche von Kooperation, meine, dass man auf Augenhöhe in wechselseitiger Freundschaft zusammenarbeitet. Das ist das, was die Gründungsväter wollten, Frieden, Freiheit und Wohlstand sicherzustellen.

STANDARD: Die ENF-Fraktion wird von allen anderen geschnitten, null Kooperation. Jetzt ist die FPÖ aber in einer Regierung. Sehen Sie da nicht jede Menge Bruchlinien? Zweifeln Sie die Mitgliedschaft der FPÖ in Ihrer Fraktion an, wollen Sie gar austreten?

Vilimsky: Diese Frage stellt sich technisch nicht. Wir haben noch 15 Monate bis zu den Europawahlen.

STANDARD: Sie könnten morgen austreten.

Vilimsky: Dann würden Sie mir vorwerfen, dass ich fraktionslos bin. Man soll die Leute nach dem, was sie tun, behandeln. Es wird immer Leute geben, die ein Haar in der Suppe suchen. Wir haben keinen Fraktionszwang, bei uns gehen keine Lobbyisten von Industrien ein uns aus wie in anderen Fraktionen. Wir versuchen auf Basis dessen, was wir den Wählern versprochen haben, Lösungen zu finden.

STANDARD: Trotzdem klagen Sie, dass die ÖVP-Delegation in Straßburg mit Ihnen nicht kooperiert. Dazu sind sie gemäß einem EVP-Fraktionsbeschluss sogar verpflichtet. Warum klagen Sie?

Vilimsky: Ich glaube, wenn Sebastian Kurz sich durchsetzt, dann wird es bei der nächsten Listenerstellung für die EU-Wahlen eine Änderung geben. Ich sehe Delegationsleiter Othmar Karas in absolutem Widerspruch zu seiner Partei agieren.

STANDARD: Aber es ist doch Kurz selbst, der gerne hätte, dass die FPÖ aus der Le-Pen-Fraktion austritt. Er sagte aber, dass er die FPÖ dazu nicht zwingen kann. Geht es nicht um das Ansehen der Regierung insgesamt? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich neben Kurz stehend sehr kritisch geäußert.

Vilimsky: Aber diesen Gefallen kann ich ihnen nicht tun. Wir gieren nach dem Ansehen in der Bevölkerung und unserer Wähler. Wenn Macron sagt, es gefalle ihm nicht, dann berührt mich das auch nicht weiter. Wir haben in den Gesprächen mit Kurz vereinbart, dass internationale Allianzen kein Thema sind.

STANDARD: Was bringt es Ihnen konkret, in der Fraktion zu sein?

Vilimsky: Bei aller Wertschätzung für den STANDARD, aber ich wechsle die Fraktion nicht auf dessen Zuruf. Was Sie wahrnehmen, nehme ich so nicht wahr.

STANDARD: Dennoch haben Sie schon im Oktober angedeutet, dass sich die Frage nach Fraktionen im EU-Parlament nach den Europawahlen im Mai 2019 ohnehin neu stelle. Was streben Sie an?

Vilimsky: Die Tories werden nach dem EU-Austritt Großbritanniens weg sein.

STANDARD: Die Tories bilden mit den polnischen Nationalkonservativen derzeit eine eigene konservative Fraktion, abgekürzt ECR, nach Christ- und Sozialdemokraten die drittstärkste Fraktion in Straßburg.

Vilimsky: Wir haben drei Fraktionen, die in unterschiedlicher Nuancierung EU-kritisch auftreten. Die Fraktion von Nigel Farage, die nur raus raus raus aus der EU will, die ECR und uns. Nach dem Brexit wird sich die ECR neu definieren müssen, es stellt sich die Frage, ob sie sich überhaupt erhalten kann. Farage ist dann weg. Dann gilt es zu schauen, wo sind bei den Abgeordneten kritische EU-Geister, die etwas Positives im Sinn haben. Wer das sein wird, wer da dabeisein wird, das werden die Gespräche im Laufe dieses Jahres sein.

STANDARD: Also Ihre Zielsetzung ist die Gründung einer neuen Fraktion, die als Gesprächspartner in Europa akzeptiert wird?

Vilimsky: Ziel ist, möglichst viele positive EU-Kritiker unter ein Dach zu bringen.

STANDARD: Heißt das, dass sie die Le-Pen-Fraktion ENF also nach Ende der Legislaturperiode verlassen und eine neue konservative EU-kritische Gruppe schaffen wollen?

Vilimsky: Im Idealfall finden sich alle derzeit drei EU-kritischen Fraktionen unter einem Dach wieder, sodass sie für die anderen auch akzeptable Gesprächspartner sein können. Die Sorgen der anderen Parteien kommen ja nicht daher, dass wir so böse Sachen machen, sondern dass wir so große Erfolge bei den Wählern haben. Daher versucht man uns mit einer Dämonisierung schlechtzumachen. Ich finde an unseren Redebeiträgen oder Anträgen nichts Kritikwürdiges.

STANDARD: Wollen Sie die Regierungsbeteiligung nutzen, um vom Schmuddelimage in Europa wegzukommen?

Vilimsky: Dieses Image ist konstruiert. Ich habe bei den letzten EU-Wahlen eine Verdoppelung der Mandate erreicht. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass wir auch 2019 wieder einen Erfolg haben werden, einfach weil unsere Linie richtig ist. Der Wähler schafft Fakten, jetzt sind wir in einer Regierung.

STANDARD: Es ändert aber nichts daran, dass Frau Le Pen erklärt, dass sie die EU zerstören will.

Vilimsky: Diese Stelle müssen Sie mir zeigen. Sie hat gesagt, die Union sei dabei, sich selbst zu zerstören.

STANDARD: Das sagte sie auch. Erst dieser Tage rief sie in Mailand zum – wörtlich – "Kampf gegen die EU auf". Reformer reden normalerweise anders. Eine Frage daher zur Regierungsarbeit. Kanzler Kurz hat die EU-Kompetenz ganz an sich gezogen, sehen Sie die Möglichkeit, dass er die FPÖ über den Hebel Europa über den Tisch zieht?

Vilimsky: Das ist Ergebnis eines Verhandlungsprozesses. Dass die ÖVP sich mit Brüssel sehr in Verbindung sieht, ist klar. Ich glaube, es war Europaminister Gernot Blümel, der gesagt hat, es sei dort wie wenn er nach Hause kommt. Ich habe nichts dagegen, dass im Gegenzug die Außenministerin Karin Kneissl zwischen Washington, Peking, Moskau und allen anderen wichtigen Plätzen dieser Welt agiert.

STANDARD: Wenn sie eingeladen wird. Aber in Europa kann Kurz über die EU-Politik auf fast alle Bereiche der Innenpolitik Einfluss nehmen. Das erinnert ein wenig an Schwarz-Blau im zweiten Anlauf, als Kanzler Wolfgang Schüssel EU-Politik praktisch im Alleingang gemacht hat. Kommt das wieder?

Vilimsky: Unsere Bewertung des Regierungspartners ist, dass diese Leute es sehr ehrlich meinen und ein Weg wechselseitigen Vertrauens gefunden werden konnte. Auch hat Kurz selbst es in seiner Partei nicht leicht. Ich sehe die ÖVP geteilt in eine türkise und eine schwarze Sektion, und dass wir beide einander brauchen. Also wird man sich in Respekt wechselseitig begegnen. Klar, wenn es diametrale Positionen gibt, wird man sich in der Mitte einigen müssen.

STANDARD: Also gibt es doch Bruchlinien oder Konfliktlinien in der Koalition?

Vilimsky: Es gibt keine Bruchlinien. Es gibt ein festgeschriebenes Programm. Ich orte beim Kanzler nicht, dass er jemand ist, der andere über den Tisch ziehen will. Er will die Gesamtheit des Meinungsbildes zum Ausdruck bringen. (Thomas Mayer, 18.1.2018)