"Le Petit Paysan" (1918)

Foto: Tate/London

"Jeanne Hébuterne" (1919)

Foto: The Metropolitan Museum of Art/Art Resource/Scala, Florence

"Junge in kurzen Hosen" (1918)

Foto: Dallas Museum of Art, gift of the Leland Fikes Foundation, Inc. 1977

Von der Decke tropft Wasser, durch die trüben Fenster fällt fahles Licht. In der Ecke liegt eine schmale Matratze, daneben steht ein Stuhl. Überall an den Wänden lehnen fertig gemalte Bilder, zu erkennen ist eines, das die schwangere Freundin des Künstlers zeigt. Auf dem Tisch in der Mitte des Ateliers sieht man eine brennende Kerze und einen vollen Aschenbecher, eine Zigarette glimmt noch. Daneben liegen eine Palette und Pinsel bereit, als würde der Meister jeden Moment zur Tür hereinkommen.

Doch Amedeo Modigliani ist seit 98 Jahren tot, 35-jährig gestorben an tuberkulöser Meningitis, an Alkoholsucht, an Armut. Mithilfe fabelhafter 3D-Technik hat eine taiwanische Firma sein letztes Pariser Atelier virtuell rekonstruiert und damit das Boheme-Leben und -Sterben des Malers sinnlich erfahrbar gemacht. Die verheerenden hygienischen Bedingungen im Atelier und die prekäre Finanzsituation des Künstlers eingeschlossen.

Die etwa zehnminütige Show zählt zu den Höhepunkten der wunderbaren Ausstellung zu Modiglianis Ehren in Londons Kunstkathedrale Tate Modern. Tate-Chefin Frances Morris und ihr Kuratorenteam haben dafür annähernd 100 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen des jüdischen Italieners zusammengetragen, Leihgaben aus Dutzenden von Museen sowie Privatsammlungen weltweit.

In einem Raum sind die charakteristischen Köpfe versammelt, die Modigliani vor dem Ersten Weltkrieg modellierte – die geliebte Bildhauerei musste der ohnehin kränkelnde Mann wegen zunehmender Atemschwierigkeiten, wohl vom feinen Staub hervorgerufen, aufgeben. Die unverkennbar schmalen Gesichter auf Schwanenhälsen aber tauchen fortan in seinen Porträtgemälden auf.

Akte mit direkten Blicken

Den größten Saal der Ausstellung widmet man den berühmten Aktgemälden des Italieners, dessen Sexualleben allen bürgerlichen Vorstellungen von künstlerischer Freiheit entsprach. "Sexiest show in town", schwärmt die Kritikerin der Financial Times über die geballte Nacktheit aus dem Kriegsjahr 1917 und danach, von einem "spektakulären Aufgebot" spricht der Guardian. Hingegen schreibt der Spiegel von "besonders dekorativem Anschauungsmaterial zur aktuellen Sexismusdebatte".

Als hätten sie solcherlei Naserümpfen vorbeugen wollen, identifizieren die Kuratorinnen um Nancy Ireson Modiglianis Modelle als moderne, ja beinahe emanzipierte Frauen: Fitness, kurze Haare, Make-up seien Zeichen der Zeit gewesen. Und wer die Hüllen fallen ließ, konnte deutlich mehr verdienen als Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken. Selbstbewusst und direkt schauen sie von der Leinwand auf die Betrachter.

Freilich sind ihre Namen weitgehend unbekannt – mit der schönen Ausnahme etwa jener Elvira, die uns bekleidet an einem Tisch sitzend sowie als Stehender Akt begegnet, Leihgaben von Museen in St. Louis und Bern. Am Ende geht es Modigliani und seinen Käufern – das Gemälde Liegender Akt erzielte 2015 sagenhafte 158 Millionen Euro – doch wohl mehr um einen Blick auf die Frau als Objekt, mag der Blick auch respektvoll ausfallen.

Radical Nudes überschrieb vor einigen Jahren die Courtauld-Galerie eine Ausstellung "radikaler" Aktzeichnungen Egon Schieles. In Anlehnung daran könnte die Tate-Show vielleicht "Zahme Nackte" heißen. Modiglianis Aktgemälde strahlen Sensualität und Erotik aus, haben nichts Vulgäres oder allzu Offenbares, unterscheiden sich also wohltuend von der Klick-Pornografie im Internet. Beunruhigend war seine Kunst schon vor 100 Jahren höchstens für jenen Polizeiführer, der 1917 eine Ausstellung in Paris wegen allzu vieler Schamhaare kurzzeitig schließen ließ.

Zur Abwechslung Landschaft

Nach all der schönen Nacktheit und einem Meer von Porträts wirkt es beinahe wohltuend, auch einmal eine Landschaft zu sehen. Gegen Ende seines Lebens, während eines Erholungsaufenthalts in Südfrankreich, experimentierte Modigliani mit dem Malen "en plein air". Lediglich vier dieser Bilder sind bekannt, die Landschaft von Cagnes (1919) gibt der Ausstellung einen ganz eigenen Farbtupfer.

Guardian-Kritiker Jonathan Jones beschrieb die Zusammenstellung in der Tate Modern als "großartige Show", die aber einem "etwas törichten" Maler gelte: "Er begann als Imitator von Cézanne und endete auch so." Der Publikumsandrang am Themse-Ufer deutet darauf hin, dass viele Kunstliebhaber sich von derlei Urteilen nicht einschüchtern lassen und in Scharen die ein wenig beengten Räume bevölkern. Vor Modiglianis virtuellem Atelier beträgt die Wartezeit leicht einmal 30 Minuten. Es lohnt sich. (Sebastian Borger, 9.1.2018)