Sennerinnen im Ennstal hatten den "fensterlnden" Burschen Schnaps mit Hittrach kredenzt.

Foto: Sammlung Simon Brugner/The Arsenic Eaters

Eine historische Figur ist in das Haus eines ehemaligen Arsenhändlers in Bruck gehauen.

Foto: Sammlung Simon Brugner/The Arsenic Eaters

Simon Brugner fand alte Abbaustollen.

Foto: Sammlung Simon Brugner/The Arsenic Eaters

Pferde wurden oft vor dem Verkauf mit Arsen gedopt.

Foto: Sammlung Simon Brugner/The Arsenic Eaters

Arsen ist ein chemisches Element und gehört zu den Halbmetallen. Schon geringe Mengen davon führen zu Kreislaufversagen und Nierenversagen sowie Herzinsuffizienz.

Foto: Sammlung Simon Brugner/The Arsenic Eaters

"Der Karlbauer hat’s auch genommen", sagt Maria. Im Flüsterton sei das damals am Küchentisch besprochen worden, oben im elterlichen Bauernhof im steirischen Mürztal. "Ich wusste eigentlich nicht, was sie meinten, ich war ja noch ein Kind, aber es musste etwa ziemlich Verruchtes gewesen sein", erinnert sich Maria, die in den 1970er-Jahren nach der Matura nach Graz gezogen war und heute in der steirischen Landeshauptstadt ein kleines Unternehmen führt.

Erst Jahre später habe sie realisiert, was da in der elterlichen Stube getuschelt worden ist: Der alte Karlbauer aus dem Ehweingraben hatte Arsen gegessen. Regelmäßig, und das in Dosen, die andere unter die Erde gebracht hätten. Arsen, erfuhr sie Jahre danach, kursierte auf dem Land als beliebtes Rausch- und Dopingmittel.

Das chemische Element Arsen – in seiner umgewandelten Form für den kommerziellen Gebrauch als Arsenik bezeichnet – war seit Jahrhunderten das wohl beliebteste Gift, um unliebsame Verwandte, Nebenbuhler oder politische Kontrahenten um die Ecke zu bringen. Arsen riecht nicht, schmeckt nach nichts, aber wirkt verlässlich tödlich. Im Mittelalter galt es als "Gift der Fürsten", vergiftetes Konfekt oder in Riechkissen verstecktes Giftpulver waren in Mode. Arsen erhielt den verräterischen Beinamen "Erbschaftspulver".

Arsen als Verhütungsmittel

Dieses weiße, zu Pulver gemahlene Arsen bewirkt in kleinen Dosen aber auch "ein seltsames Loswerden der Erdenschwere, ein Gefühl der Befreiung", wie es der Forscher Richard M. Allesch in seinem 1959 erschienenen Werk über Arsenik beschreibt.

"Arsen war das Kokain der armen Leute, der Roß- und Holzknechte", weiß der Wiener Fotograf Simon Brugner, der seit drei Jahren an einem Buch über dieses noch immer gut gehütete Geheimnis der steirischen "Arsenesser" arbeitet. Aber mehr noch: Arsen galt auch als Schönheitspulver, als Anti-Aging- und Dopingmittel für Pferde. Und es kam als Rattengift zum Einsatz.

Frauen, so fand Brugner heraus, nahmen Arsen, um abzutreiben oder zu verhüten. Arsen wurde dazu während des Geschlechtsakts in die Scheide eingeführt. Zur Abtreibung nahmen Frauen trotz großer gesundheitlicher Gefährdung spezielle "Arsenikpillen".

Die Steiermark, die Regionen um Murau, Fohnsdorf, vom Mürztal bis in die Oststeiermark, aber auch im Ennstal waren die Hotspots der Arsenesser. Was 1880 selbst die New York Times veranlasst hatte, Reporter in die Steiermark zu schicken, um dieses Phänomen zu featuren.

Aber viel haben sie damals nicht rausgebracht. Man sprach, wie auch heute noch in diesen Regionen, nicht gern über dieses Rauschmittel, das in korn- bis erbsengroßen Portionen eingenommen und zur Abhängigkeit führte. Simon Brugner hatte in regionalen Zeitungen eine Annonce aufgegeben mit der Frage und Bitte, ob sich jemand an die Arsenesser erinnere und ihm mehr darüber erzählen könnte. Ein Pferdebauer aus der Breitenauer Gegend meldete sich. Ja, er wisse davon und würde ihm gerne davon berichten.

Simon Brugner macht sich an einem saukalten Wintertag in Begleitung des STANDARD auf den Weg in die unwirtliche Bergwelt bei Breitenau südöstlich von Bruck an der Mur. Ein elendslanger Graben führt in diese alte Bergbauregion. Einfache Arbeitersiedlungen mit schmucken Vorgärten säumen die Straße. Ein Arbeiterklasse-Denkmal in dieser Agrarlandschaft.

Der Pferdebauer mit der kleinen angeschlossenen Schafzucht, der sich auch in der Pferdekutschenbranche einen Namen gemacht hat, bittet ein wenig zögerlich ins Haus. Am großen Holztisch in der Stube beginnt der alte Mann etwas verlegen zu grummeln: Natürlich wisse er davon, vom Arsen oder Hittrach, wie man hier sage. Vor allem die Rossknechte hätten es gegessen. Aber, sosehr Simon Brugner auch nachfragt und um Details bittet, viel mehr ist nicht herauszuholen aus dem Pferdeliebhaber. Auch er wisse alles nur aus zweiter Hand.

Mit Krücken zum Wildern

Plötzlich geht die Tür auf und drei Landwirte aus der Oststeiermark schneien herein. Sie kommen auf Besuch, um die Pferde hinten in der Koppel zu begutachten. Arsen? Ein allgemeines Lachen hebt an. Natürlich, auch sie wissen von der Tradition des Arsenessens, aber auch sie wollen sich nicht so recht an irgendwelche Details erinnern.

Nur der rüstige 85-Jährige mit den listigen Augen, der nicht in der Pferdewirtschaft aufgewachsen ist, rückt mit ein paar Bonmots heraus: Es sei noch gar nicht so lange her gewesen, da habe einer bei einer Dachstuhlreparatur eine Dose mit weißem Pulver gefunden. Der Hausherr habe sie aber gleich verschwinden lassen, feixt er. "Ja, viele haben früher das Zeugs genommen, um sich stark und potent zu fühlen", sagt der muntere Mitachtziger. Und da sei auch dieser einbeinige Wilderer gewesen. Der Typ ging mit den Krücken in den Wald wildern, aufgepumpt mit Arsen.

Man habe es eigentlich hauptsächlich den Pferden gegeben, sagt Brugner. Damit diese bei der extrem schweren Arbeit in dieser steilen Waldregion länger durchhalten und stärker werden. "Aber auch das Fell hat viel schöner geglänzt, was beim Verkauf der Tiere wichtig war", taut der Pferdebauer etwas auf. "Und dann nach dem Kauf sind sie nach 14 Tagen zusammengebrochen", lacht einer aus der Runde.

Die Gewinnung des Arseniks war aufwendig. "Sie haben den Arsenstein erhitzt, die Substanz hat sich dann über den Rauch im Ofenrohr abgelagert. Von dort hat man es dann abgeklopft", erklärt Brugner, der sich nach der Gesprächsrunde mit den Pferdebauern auf den Weg zum letzten in dieser Gegend noch vorhandenen Arsen-Abbaustollen macht.

Von einer Anhöhe bei Breitenau, wo der internationale Pilgerweg Via Slavorum vorbeiführt und zahlreiche geschmückte Kreuze am Wegesrand stehen, geht’s ein paar Kilometer auf einem Forstweg hinein in den Tann. Als der Weg scharf nach links biegt, zeigt Brugner auf einen Haufen Reisig. "Hier muss der Eingang sein", sagt Brugner, "irgendjemand hat den Zugang getarnt."

Drinnen in diesem uralten Loch im Berg wurde schon vor Jahrhunderten Arsen für die Glasindustrie oder zur Farbenherstellung abgebaut. Eine halbe Stunde weiter den verschneiten Forstweg entlang finden sich auf einer Lichtung Überreste eines jahrhundertealten Arsenbrennofens. Hier wurde der Arsenstein in eine brauchbare Substanz umgewandelt, und hier bedienten sich wohl auch die Holzknechte.

"Spezialität": Arsenkäse

Je länger sich Simon Brugner jedenfalls in das Thema Arsenesser vertieft hatte, desto facettenreicher wurde es. So sei etwa überliefert, dass im Ennstal Sennerinnen ihren Burschen, die zu ihnen "fensterln" kamen, Schnaps mit Hittrach, also Arsen, kredenzten. Oder man jausnete einen speziellen Arsenkäse, der unter der Hand verkauft wurde.

Der Grazer Jurist und Historiker Fritz Byloff hatte in den 1930er-Jahren eine Abhandlung über die Arsenesser geschrieben und angemerkt, "dass in anderer europäischen Arsenikhütten, dort, wo Arsen abgebaut wird, nicht das Geringste über Arsenikessen bekannt ist. Die Erscheinung ist daher auf die Steiermark spezialisiert." Man wisse, "dass sich die steirischen Arsenikesser wegen ihrer Leidenschaft schämen, darüber strenges Stillschweigen bewahren und vom Volke ähnlich als Entgleiste beurteilt werden als wie in der städtischen Gesellschaft etwa Opiumraucher, Morphinisten oder Kokainisten".

Und selbst der steirische Waldheimat-Volksdichter Peter Rosegger wusste vom Arsenessen seiner Landsleut’. Die Sache mit dem Arsenessen sei "nichts anderes als ein Überrest des mittelalterlichen Gesundheitselixiers des Teufels, schrieb Rosegger. "Man trank es, wurde jung und nach einiger Zeit vom Teufel geholt." (Walter Müller, 7.1.2018)