Wenn in einem autoritären System Demonstranten auf die Straße gehen, dann schreibt ihnen der Blick von außen als Motiv erst einmal vor allem den Wunsch nach Freiheit zu: Fast 39 Jahre nach Einführung eines streng islamischen Systems im Iran müssen sich die Menschen doch nichts sehnlicher wünschen als einen Regimewechsel. Aber ganz so einfach ist das nicht. Gerade die jüngste Protestwelle im Iran lässt sich – unabhängig davon, wie sie angefangen hat – auf ganz konkrete Gründe und Auslöser für die wachsende Unzufriedenheit zurückführen: Probleme im Bankensektor, bei dem Menschen ihr Geld verloren haben, Fabrikschließungen, ausbleibende Gehälter oder Boni, Sparkurs auf der einen, Korruption auf der anderen Seite. Nicht das System hat die Menschen auf die Straßen getrieben, sondern das Systemversagen.

Dazu kommt, dass viele Iraner und Iranerinnen vom Abschluss des Atomdeals mit der internationalen Gemeinschaft 2015 wahre Wirtschaftswunder erwarteten: Diese sind ausgeblieben, auch deshalb, weil die USA schon vor dem Amtsantritt Donald Trumps als Präsident auf der Normalisierungsbremse standen – und jetzt in eine Vollbremsung übergegangen sind.

System der Islamischen Republik

Einer der Gründe dafür, dass viele im Iran das Gefühl haben, der Staat schere sich nicht um sie, hat jedoch sehr wohl etwas mit dem System der Islamischen Republik zu tun: das iranische Engagement, um es euphemistisch zu sagen, im Ausland. Bei den Protesten wurde das auch deutlich – manchmal mit rassistischem Unterton – thematisiert: Wenn nicht so viel iranisches Geld zu den unfähigen Arabern fließen würde, dann ginge es uns besser. Gemeint ist das iranische Eingreifen in Syrien, im Irak, die Unterstützung der Hisbollah im Libanon und der Huthis im Jemen, und überhaupt der Versuch, weltweit Schiiten zu vereinnahmen.

Unter iranischer Ägide ist mittlerweile in der Region ein beachtliches Netz schiitischer Milizen, rekrutiert vor allem in Afghanistan, Pakistan und dem Irak, im Einsatz. Das kostet. Das Geld dafür kommt zwar durchaus auch aus "privater" Hand, zum Beispiel vom Imam-Reza-Schrein in Mashhad, wo für die afghanischen Milizionäre Wohnungen gebaut werden. Aber das geht insofern auch auf Staatskosten, als diese religiösen Stiftungen an der Volkswirtschaft teilnehmen, ohne sich, wie Iran-Experte Walter Posch in seinem Gastkommentar für den STANDARD schreibt, an deren Regeln halten zu müssen.

Henne-Ei-Problem

Gerade der Abschluss des Atomdeals, der der Normalisierung der iranischen Beziehungen nach außen dienen sollte, hat zu einem Aufwind dieser Kräfte und einem ideologischen Schub in der iranischen Regionalpolitik geführt. Der Deal wurde von Präsident Hassan Rohani durchgebracht, den die Hardliner unter anderem deshalb für den Totengräber der Revolution halten, obwohl er das islamische System quasi in der DNA hat.

Der Erfolg Rohanis – der mit der neuen US-Politik jetzt ohnehin den Bach hinunterzugehen droht – musste durch eine Regionalpolitik ausbalanciert werden, in der die "Achse des Widerstands" eine größere Rolle spielt als je zuvor. Die neue saudische Aggressivität macht die Sache auch nicht besser – wobei sich hier die berühmte "Henne oder Ei?"-Frage stellt. Aber sicher ist, dass die Menschen in der Region den Preis dafür zahlen – auch jene im Iran, deren Mehrheit nur ein ganz normales Leben will. (Gudrun Harrer, 1.1.2018)