Dreimal klopft Rosaria Leiva mit dem Filzstift an die Plastiktafel. Tocktocktock. Sie will, dass sich ihre Schüler konzentrieren. Will, dass sie die Buchstaben an der Tafel zu spanischen Wörtern formen. Tocktocktock. Vor dem kleinen Holzhaus im ländlichen Ciudad Sandino, nahe der nicaraguanischen Hauptstadt Managua, rutschen die Anwesenden auf den aufgestellten Plastiksesseln herum. Das Tocktocktock verhallt in der umliegenden tropischen Pflanzenwelt.

Dann meldet sich der 35-jährige Isaia Flores. Langsam formt er die Worte im Mund. Schielt immer wieder auf seine krakelige Mitschrift. Flores hat nie lesen und schreiben gelernt. Mit acht Jahren hat er die Schule abgebrochen, er wollte viel lieber auf dem Feld arbeiten, als sich mit Lernen abzumühen. Seine Eltern schafften es nicht, ihn zurück zur Bildung zu drängen. Und auch der Staat Nicaragua nicht. Und das, obwohl Kinder bis 13 Jahre schulpflichtig sind.

Nach der Arbeit im Haushalt oder auf dem Feld treffen sich die erwachsenen Bewohner von Ciudad Sandino, um gemeinsam lesen und schreiben zu lernen.
Foto: Bianca Blei

Unter dem weltweiten Durchschnitt

Die Alphabetisierungsrate Nicaraguas liegt bei etwas weniger als 83 Prozent, weltweit können durchschnittlich etwas mehr als 86 Prozent der über 15-Jährigen lesen und schreiben. Diejenigen, die ihre Alphabetisierungen in Kindheitsjahren verpasst haben, haben es schwer, staatliche Angebote zu nutzen. Diese Lücke füllen Hilfsorganisationen wie Cecim – sie wird unter anderem von der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar Österreichs unterstützt. Mit einem kostenlosen Bildungsangebot locken sie Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene Richtung Schulabschluss.

Vor allem im ländlichen Sandino fällt es den Menschen oft schwer, staatliche Angebote zu nützen.
Foto: Bianca Blei

Flucht vor dem Beben

Ciudad Sandino selbst lockt bereits seit Anfang der 1970er-Jahren immer mehr Menschen an. Damals flohen die Bewohner Managuas nach dem Erdbeben, das mehr als 10.000 Menschen tötete, aus der Großstadt in das umliegende ländliche Gebiet. Die zweite Fluchtwelle folgte Ende der 1990er-Jahre, nachdem Hurrikan Mitch zu großen Naturkatastrophen im Land geführt hatte. Mindestens 3.800 Menschen starben dabei.

Das führte dazu, dass das beschauliche Ciudad Sandino zu einer 110.000-Einwohner-Stadt anwuchs. Die staatlichen Strukturen schafften es nicht, mit dem raschen Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Zu wenig Schul- und Ausbildungsplätze für Kinder und Jugendliche sind noch immer Realität, wie Isabel Sanchez, Präsidentin von Cecim, erzählt.

Jeden Freitag öffnet Umberto seine Werkstatt für Jugendliche in Ausbildung.
Foto: Bianca Blei

Kinder nicht ausreichend versorgt

Hinzu kommt, dass viele Eltern zwar im nahen Managua arbeiten, sich aber kein tägliches Busticket leisten können. Die Kinder und Jugendlichen kommen so bei anderen Familienangehörigen unter, wo sie oft nicht ausreichend versorgt werden. Gewalt, Drogen und Arbeitslosigkeit breiten sich aus.

Diese jungen Menschen kennt auch der 18-jährige Carlos Anoris Mejia: "In meinem Freundeskreis gibt es einige, die nur trinken und rauchen", sagt er und fügt hinzu: "Wer heutzutage nicht will, der will einfach nicht." Denn schließlich gebe es Möglichkeiten. Er selbst will bei Cecim seinen Abschluss an der Volksschule und der Unterstufe schaffen. Um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitet er nebenbei als Anstreicher. Gleichzeitig lässt er sich zum Motorradmechaniker ausbilden.

Der 54-jährige William glaubt, dass die jungen Mechaniker gute Chancen auf dem Jobmarkt haben.
Foto: Bianca Blei

Mechaniker als Ausweg

Jeden Freitag tritt er durch das Gatter von Umbertos Werkstätte. Dahinter stapeln sich die Ersatzteile in einem kleinen Innenhof. Zwischen umherlaufenden Hühnern hämmern Jugendliche an einer Werkbank auf ein Motorenteil. Nach jedem "Pling", das die Hammerschläge auslösen, blicken sie zu Umberto.

Der Mitte-50-Jährige repariert bereits seit 20 Jahren Motorräder in Sandino. Gemeinsam mit seinen Brüdern hat er den Betrieb aufgebaut. Er gibt sein Wissen gerne an die Jugendlichen weiter. Immerhin halte es sie von der Straße fern, erzählt der Mechaniker. Auch sein 54-jähriger Bruder William hat bereits mehr als 100 Jugendliche zu Motorradmechanikern ausgebildet. "Früher war es eine Notwendigkeit, Motorräder zu reparieren. Doch heute gibt es einen regelrechten Boom", antwortet er auf die Frage, wie die Berufschancen der jungen Leute danach aussehen. Einige der jungen Männer von Cecim überlegen deshalb, eine Gemeinschaftswerkstatt zu gründen.

In Nicaragua müssen viele Kinder in der heimischen Landwirtschaft arbeiten. Da bleibt keine Zeit mehr für Schulbildung. Außerdem liegen die Schulen oft weit vom Wohnort der Kinder entfernt.
Foto: Bianca Blei

Unzureichendes Schulsystem

Laut dem jüngsten Bericht des Unesco-Statistikinstituts zur Bildung vom Oktober ist das Schulsystem in Nicaragua unzureichend. Viele der Schüler in den staatlichen Bildungseinrichtungen seien auch nach der Volksschule nicht fähig, einfache Rechnungen zu lösen oder simple Sätze zu lesen.

Viele Kinder müssen zudem arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen – obwohl das in Nicaragua erst ab 14 Jahren legal wäre. Experten gehen davon aus, dass landesweit rund 250.000 bis 320.000 Kinder arbeiten – jedes Dritte von ihnen unter dem Alterslimit. Das Einkommen der Kinder ist aber so wichtig, dass nicht einmal die Schulpflicht die Kinder zur Bildung zwingen kann.

Rund 250.000 bis 320.000 Kinder haben nur wenig Zeit für Freizeit: Sie müssen in Nicaragua arbeiten.
Foto: Bianca Blei

Weg zur Selbstbestimmung

Für die 37-jährige Nancy Leiva war es ein Weg zur Selbstbestimmung, endlich lesen und schreiben zu können. Sie war nie in der Schule gewesen, musste in der elterlichen Landwirtschaft helfen. "Niemand kann mich mehr betrügen, wenn er mir ein Schriftstück zum Unterschreiben gibt", erzählt die Frau, während ihre Lehrerin – die ihre Nichte ist – während des Unterrichts im ländlichen Sandino mit dem Tocktocktock an der Tafel weitermacht. Außerdem sei es für sie eine Schande gewesen, als ihre beiden Kindern lesen gelernt hätten und sie nicht. Sollten ihre Buben die Schule verlassen wollen, würde sie sie zwingen, weiterzumachen. "Sie sollen diese Schande niemals spüren." (Bianca Blei aus Ciudad Sandino, 31.12.2017)