Keine Worte mehr finden: Menschen mit Frontotemporaler Demenz hören deshalb oft auf zu sprechen. Das Gedächtnis ist aber oft lange Zeit nicht beeinträchtigt.

Foto: GettyImages

Am Anfang dachten alle, es sei eine Depression. Herr P., damals 71, zog sich zurück, schliff stundenlang an seinen Holzfiguren, beteiligte sich immer weniger an Familiengesprächen. Eines Tages erwähnte er, dass er Schwierigkeiten habe, Worte zu finden. Zudem sei ihm immer schwindelig. "Er stürzte auch mehrmals mit dem Rad, wir dachten, es sei ein Glas Wein zu viel gewesen", erinnert sich seine Frau.

Die erste Neurologin diagnostizierte vaskuläre Demenz, die unter anderem mit Symptomen wie Verlangsamung und Stimmungslabilität einhergeht. Doch Herr P. interessierte sich immer weniger für seine Familie, Freunde und Hobbys, und auch das Sprechen kam ihm abhanden: "Ich habe genug geredet", sagte er seiner Frau, die ihn plötzlich nicht wiedererkennt. Ein Arzt empfiehlt den Besuch des Zentrums für Geriatrie und Gerontologie der Universität Freiburg. Dort diagnostizierten die Neurologen Frontotemporale Demenz (FTD).

Auffälliges Verhalten

Bei einer FTD sterben die Nervenzellen im Stirn- und Schläfenbereich (Temporallappen) des Gehirns ab. Dort werden unter anderem Emotionen, Sozialverhalten und die Sprache gesteuert. "Wesensveränderungen sind bei der Verhaltensvariante der FTD die ersten Symptome der Erkrankung – je nachdem, wo der Abbau der Nervenzellen beginnt, kann sich die FTD jedoch mit sehr unterschiedlichen Symptomen präsentieren", erklärt Elisabeth Stögmann, Neurologin an der Med-Uni Wien. Während die FTD Herrn P. teilnahmslos macht, werden andere aggressiv oder taktlos. "Patienten wissen dann einfach nicht mehr, 'was sich gehört'. Sie fragen etwa wildfremde Menschen, warum sie eine Glatze haben oder tätowiert sind. Ein Patient stimmte in völlig unpassenden Situationen Heurigenlieder an", sagt Stögmann.

Bei den Sprachvarianten der FTD verändert sich das verbale Ausdrucksvermögen, es kommt zu Wortfindungsstörungen. "Zum Beispiel kann jemand plötzlich mit dem Wort 'Gabelstapler' nichts mehr anfangen", erklärt Stögmann. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu Überschneidungen der Symptome kommen. Herr P., heute 74, antwortet meist nur noch auf direkte Fragen. Häufig hört er mitten im Satz zu sprechen auf, weil ihm ein Wort nicht einfällt. Insgesamt verarmt die Sprache nach und nach, manche Patienten verstummen vollständig.

Als Alterssturheit auslegen

Die Diagnose ist mitunter schwierig. Besonders die verhaltensbetonte FTD kann gerade im Anfangsstadium leicht mit anderen Erkrankungen wie Depressionen verwechselt werden. Hinzu kommt, dass Patienten mit FTD in den üblicherweise verwendeten Demenztests meist gut abschneiden, die Gedächtnisleistungen sind lange Zeit gut erhalten. Nicht zuletzt können die Symptome, gerade zu Beginn der Erkrankung, auch mit dem normalen Alterungsprozess erklärt werden, der klassischen Midlife-Crisis oder aber Alterssturheit.

Im Vergleich zu Alzheimer ist die FTD selten: Die Zahlen zur Häufigkeit variieren je nach Quelle und Studie. Laut "Informationsblatt FTD" der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft leiden drei bis neun Prozent aller Demenzkranken an FTD, an Alzheimer 70 Prozent. Bei den unter 65-Jährigen ist die FTD allerdings die zweithäufigste Demenzform. Tatsächlich bricht die Krankheit bei 75 Prozent der Betroffenen zwischen dem 50. und dem 60. Lebensjahr aus. Die Spannweite ist groß, in seltenen Fällen erkranken Menschen unter 40 oder über 80 Jahren daran.

Medikamente gegen den Nervenzellabbau bei der FTD gibt es bislang nicht. Die Medikamente, die derzeit zur Behandlung der Alzheimer-Demenz eingesetzt werden, sind wirkungslos. "In den Gehirnen von FTD-Patienten findet man typische Proteinablagerungen", sagt Markus Otto, Neurologe an der Universität Ulm. Warum es zu dieser "Proteinüberproduktion" in den Nervenzellen kommt, an der die Zellen letztlich zugrunde gehen, ist unbekannt.

FTD-Patienten-Datenbank

In der Zwischenzeit haben Forscher einige Risikogene identifiziert. Veränderungen, also Mutationen, in den Genen C9orf72, Tau und Progranulin erhöhen die Wahrscheinlichkeit, an FTD zu erkranken. Allerdings führen nicht alle Genveränderungen zum Ausbrechen der Krankheit: "Etwa 20 Prozent der Patienten tragen eine Mutation in sich. In Abhängigkeit von der Penetranz der Mutation kann eine Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausbrechen, bei niedriger Penetranz kann der Genträger auch lange Zeit unbeeinträchtigt sein", sagt Otto.

Otto und seine Kollegen führen gerade die weltweit erste Tau-Immunisierungsstudie durch. Dabei sollen Antikörper gegen das Tauprotein dazu führen, dass es sich in den Nervenzellen nicht anreichern kann. Auf diese Weise soll der Abbauprozess im Gehirn zumindest gedrosselt werden. Parallel dazu versuchen Mediziner weltweit FTD-Patienten-Datenbanken aufzubauen. Darin fließen Untersuchungsergebnisse ein – mit dem Ziel, die Erkrankung besser zu verstehen und auf diese Weise letztlich Therapien entwickeln zu können. Herr P. werden die Bemühungen nicht helfen. Aber er klagt nicht. Seine Familie ist sich nicht sicher, ob das nur daran liegt, dass er nicht mehr sprechen möchte. (Juliette Irmer, 5.1.2018)